Der Richter
hat Geld für eine Verhandlung dort unten bekommen. Letztes Jahr im Januar.«
»Letztes Jahr war er krank.« Harry Rex schluckte etwas Flüssiges.
»Der Krebs wurde im Juli diagnostiziert.«
»Ich kann mich an keinen Fall an der Küste erinnern.« Harry Rex biss in etwas. »Das ist eine Überraschung.«
»Für mich auch.«
»Warum siehst du dir seine Akten an?«
»Ich vergleiche nur die Einnahmenbelege mit seinen Prozessakten.«
»Warum?«
»Weil ich der Nachlassverwalter bin.«
»Entschuldigung, dass ich gefragt habe. Wann kommst du wieder her?«
»In ein paar Tagen.«
»He, ich habe heute zufällig Claudia getroffen, nachdem ich sie monate-lang nicht gesehen hatte. Sie kam früh am Morgen in die Stadt und parkte einen nagelneuen schwarzen Cadillac in der Nähe des Coffee Shop, so dass ihn alle gut sehen konnten. Dann ist sie den halben Vormittag in der Stadt herumflaniert. Tolle Frau.«
Ray musste lächeln, als er sich vorstellte, wie Claudia mit einer Handta-sche voller Geld zum Autohändler rannte. Der Richter wäre stolz gewesen.
Die Nacht verbrachte er auf dem Sofa, wo er immer wieder aus dem Schlaf aufschreckte. Die Wände knackten lauter als sonst, die Lüftungsschlitze und Leitungsschächte schienen aktiver zu sein. Dinge bewegten sich, dann war wieder alles ruhig. In der Nacht nach dem Einbruch wartete die ganze Wohnung auf den nächsten Dieb.
27
Um sich den Anschein von Normalität zu geben, ging Ray auf einer seiner Lieblingsstrecken joggen. Er lief die Fußgängerzone hinunter, die Main Street bis zum Campus, den Observatory Hill hoch und wieder zurück, insgesamt neun Kilometer. Mittags aß er mit Carl Mirk im Bizou, einem be-liebten Bistro drei Häuserblocks von seiner Wohnung entfernt, und trank danach einen Kaffee in einem Straßencafé. Fog hatte die Bonanza für eine Flugstunde um fünfzehn Uhr reserviert, aber dann kam die Post, und mit der Normalität war es vorbei.
Der Umschlag war von Hand adressiert und an ihn gerichtet. Kein Absender, abgestempelt einen Tag zuvor in Charlottesville. Eine Stange Dy-namit auf dem Tisch hätte nicht verdächtiger ausgesehen. Im Umschlag steckte ein dreimal gefaltetes Blatt Papier. Nachdem Ray es auseinander gefaltet hatte, traf ihn fast der Schlag. Einen Augenblick lang konnte er nicht denken, atmen, fühlen, hören.
Das Blatt war ein digitales Farbfoto, auf dem Lagerabteil 14 B von Chaney’s Seilf-Storage zu sehen war, ausgedruckt auf normalem Kopierpapier.
Kein Text, keine Warnungen, keine Drohungen. Es war auch nichts dergleichen notwendig.
Als Ray wieder atmen konnte, fing er an zu schwitzen, und das dumpfe Gefühl in seinem Magen wich einem stechenden Schmerz. Ihm war so schwindlig, dass er die Augen schließen musste, und als er sie wieder öffnete und das Bild ansah, war es unscharf.
Sein erster Gedanke - der erste, an den er sich erinnern konnte - war, dass es in seiner Wohnung nichts gab, auf das er nicht hätte verzichten können. Er konnte alles zurücklassen. Trotzdem packte er eine kleine Tasche.
Drei Stunden später hielt er an einer Tankstelle in Roanoke, weitere drei Stunden später fuhr er zu einem belebten LKW-Stopp östlich von Knoxville. Er bog in den Parkplatz ein, ließ sich hinter das Lenkrad des TT sinken und beobachtete die Trucker, die kamen und gingen, und die Gäste in dem gut besuchten Lokal. Er wollte einen bestimmten Tisch am Fenster, und als der frei wurde, schloss er den Audi ab und ging hinein. Vom Tisch aus bewachte er seinen Wagen, der fünfzehn Meter von ihm entfernt stand und drei Millionen Dollar in bar enthielt.
Dem Geruch nach zu urteilen war die Spezialität des Hauses Fett. Ray bestellte einen Hamburger und fing an, auf eine Serviette zu kritzeln, welche Möglichkeiten er hatte.
Am sichersten wäre das Geld in einer Bank aufgehoben, in einem großen Schließfach hinter dicken Wänden, bewacht von Kameras. Er könnte die Summe splitten, sie auf mehrere Banken in mehreren Städten zwischen Charlottesville und Clanton verteilen und so eine möglichst irreführende Spur hinterlassen. Das Geld ließe sich unauffällig in einem Aktenkoffer hinbringen. Einmal in der Bank, würde es für immer sicher sein.
Aber das hieße auch, zu viele Spuren zu hinterlassen. Formulare für das Mieten von Schließfächern, er musste sich ausweisen, Adresse und Telefonnummer angeben … und unser neuer stellvertretender Direktor würde Sie gern kennenlernen! Es bedeutete Geschäfte mit Menschen, die er nicht kannte,
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