Der Rikschamann
meinte es anscheinend wirklich ernst.
Elena hielt den jetzt schlafenden Sascha wieder beidhändig, erhob sich und trat zurück zur großen Glastür. »Du siehst aus, als könntest du einen doppelten Espresso gebrauchen. Kommst du gleich rüber?«
Pieter brachte ein Lächeln zustande, flankiert von einem schwachen Nicken.
»Du wirst noch zu einem richtigen Familienvater! Lass mich nicht zu lange warten, mein Schatz.« Elena schmatzte ihm noch einen Luftkuss zu, dann waren sie und das Baby fort.
Wie seine Klamotten. Und der verdammte Wagen. Obwohl, der stand vielleicht ja noch in der Tiefgarage vom Penthouse. Aber wie wäre er dann hierher gekommen? Seine Hände fuhren in die Taschen des Bademantels: Nichts. Keine Schlüssel, kein Geld, keine Kreditkarte, keine Papiere, kein Handy. Ohne Kohle hätte ihn kein Taxifahrer der Welt chauffiert. War er etwa zu Fuß…?
Unwillkürlich zog er die Füße an und befühlte sie. Wäre er besoffen barfuss vom Penthouse bis zum Falkenstein gelatscht, müsste er mehr Blasen und Schnitte unter den Sohlen haben als ein Bußpilger. Da war aber nichts. Alles glatt, bis auf eine verkrustete Stelle. Die tat allerdings nicht weh. Er zog den Fuß dichter heran, beugte sich vor und warf einen Blick darauf: Unter dem Ballen klebte eine dunkle Kruste, etwa von der Größe einer Zwei-Euro-Münze. Vorsichtig kratzte er daran. Die Kruste löste sich im Stück. Erleichtert vergewisserte sich Pieter, dass seine Haut darunter völlig unversehrt war. Was immer diese klebrige Kruste war, sie hatte jedenfalls nichts mit ihm zu tun. Er schnippte das unappetitliche Zeug zielsicher ins Fußbecken der tropfenden Pooldusche und lehnte sich entspannt wieder zurück, um die Kopfschmerzen einigermaßen in den Griff zu bekommen.
Klick – Splash.
Filmriss. Klamotten weg. Wagen weg. Und wo ist das Mädchen geblieben?
Pieter raffte sich von der Liege hoch. Alles würde sich finden, auch die Erinnerung. Er taumelte, noch etwas benommen, und hielt sich mit einer Hand an der Pooldusche fest. Dann fiel sein Blick auf die Wasserlache, die sich durch die steten Tropfen im Fußbecken gebildet hatte: Um die aufgeweichten Ränder des Krustentalers waberten rote Rinnsale, wie ein blutroter Sonnenuntergang im Dunst eines frostigen Winterabends.
Blut!
Wo war das Mädchen?
Leertakt.
»Man nimmt einfach die Watertucht, also einen an einem Seil befestigten Eimer – und ab dafür, raus aus dem Fenster!«
Professor Horst Straschitz holte mächtig aus und bewarf seine Studenten mit einem imaginären Eimer. Wie immer in seiner Pantomime dermaßen überzeugend, dass Max und seine Kommilitonen unwillkürlich die Köpfe einzogen, um den Phantasiekübel nicht abzukriegen. Sie saßen auf der alten Anlandetreppe unterhalb der Holzbrücke wie in einem Freilufthörsaal. Zu ihren Füßen verlief das Nikolaifleet – vielmehr das, was bei gerade herrschender Ebbe noch vom Fleet übrig blieb: Nasser Schlick und trübe Wasserrinnen.
»Keine üble Sache, wenn man sein Wasser umsonst kriegt.« Straschitz holte mit angestrengten Zügen das simulierte Seil wieder ein und wuchtete den fiktiven Wassereimer auf eine nicht minder fiktive Fensterbank.
»Kommt ganz aufs Wasser an!« gab Max zu bedenken. Straschitz erlegte ihn dafür mit einer Pistole aus Daumen und Zeigefinger, breitete dann theatralisch die Arme aus und deklamierte wie ein Burgschauspieler:
»Zu Hamburg frug ich: Warum so sehr die Straßen stinken täten, doch Juden und Christen versicherten mir, das käme von den Fleeten!« Er nahm die Arme wieder herunter und grinste verschmitzt. »Heinrich Heine. Kleine Exkursion in die Germanistik. Zurück zu den Fleeten. Sie waren Trinkwasserreservoir, aber auch Transportweg. Und Müllkippe. Am Ostufer der Kleinen Alster standen Schlachthäuser. Knochenreste? Gammelfleisch? Gedärme?«
Straschitz feuerte mit angewiderter Mine imaginäre Abfälle von sich.
»Ab ins Fleet! Abwasser aus den Gerbereien im Gerhof – ab ins Fleet!«
Er tippte einer Studentin auf die Schulter. »Schöne Lederjacke haben Sie an – Leder wurde übrigens damals immer mit Urin gegerbt. Soviel zu den Abwässern aus den Gerbereien.«
Neben Max verzog ein Kommilitone angeekelt sein Gesicht und schob das Franzbrötchen, von dem er gerade abbeißen wollte, zurück in die Tüte. Straschitz in Hochform, amüsierte sich Max.
Der Professor lief jetzt auf vollen Touren. »Der Nachttopf läuft über? Aus dem Fenster damit! Müll, Fäkalien, Keime! Und – »
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