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Der Rikschamann

Der Rikschamann

Titel: Der Rikschamann Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jan Schroeter
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seine Hand schnellte der unwillkürlich zurückzuckenden vorderen Zuhörerreihe entgegen wie ein zuschnappendes Raubtiergebiss: »Ratten! Ratten!! Ratten!!!«
    Der jetzt vollends bediente Student neben Max stand auf und wandte sich zum Gehen. Max hielt ihn kurz zurück und wies fragend auf die Brötchentüte, die der leicht grüngesichtige Kommilitone noch immer krampfhaft in der Hand hielt. Die Tüte wechselte prompt den Besitzer. »Bisschen viel gefeiert letzte Nacht, » nuschelte der Angeekelte, »ist nicht mein Ding heute mit Pisswasser und so…«
    Mit ein paar schnellen Schritten stieg er die Treppe hoch und verschwand. Max zog das Franzbrötchen aus der Tüte und biss schmunzelnd hinein. Er wusste, dass den Professor der plötzliche Zuhörerschwund keineswegs irritierte. Straschitz nahm dergleichen als Bestätigung für den sinnlichen Realismus seines Vortrags.
    Und so war es ja auch.
    »Dat is in’n Fleet fulln, pflegte man früher in Hamburg sagen, wenn mal wieder was abhanden gekommen und unauffindbar war. Weg mit Schaden und Schwamm drüber! Weg mit ungeliebten Dingen – aber auch mit belastenden Dingen…« Straschitz schob sich dicht an die Studenten heran und senkte verschwörerisch die Stimme. »Unliebsame Menschen mit einbetonierten Füßen im Hafenwasser zu versenken, ist nicht erst im Chicago der Prohibitionszeit erfunden worden, meine Damen und Herren! Kleine Exkursion in die Kriminalistik.«
    »Was hat das jetzt mit Hamburger Geschichte zu tun?« wagte ein dürres Mädchen aus der hintersten Reihe einzuwenden, das sich fröstelnd die Hände rieb und sich wahrscheinlich schon seit einer halben Stunde die Sinnfrage stellte, warum man an diesem Samstagmorgen nicht einfach im Bett geblieben war.
    »Die liegt Ihnen zu Füßen.« Straschitz wies seelenruhig hinter sich auf die Schlickpiste des leergelaufenen Nikolaifleets. »Hier zwischen Trostbrücke und Holzbrücke lag seit 1188 der zweite Hafenplatz Hamburgs. An diesem Anleger hier machten noch vor einem Jahrhundert täglich die Äppelkähne aus den Vierlanden fest. Dort hinten auf dem Platz vor der Nikolaikirche fand nämlich bis 1911 Hamburgs Gemüsegroßmarkt statt. Und wenn Sie damals hier so nutzlos auf der Treppe gesessen hätten, wären Sie von den Gemüsebauern mit Kohlköppen von den Stufen gekegelt worden. Aber wir sind ja auch heute nicht hier, um nutzlos herumzusitzen! Ich sehe, Sie sind alle mit Gummistiefeln und angemessenen Beinkleidern gerüstet. Kleine Exkursion in die Praxis.«
    Die braune Masse schmatzte widerlich, als wäre ihr gerade ein ersehnter Leckerbissen entgangen. Max setzte seinen Fuß im verschlammten Gummistiefel vorsichtig an einer neuen Stelle auf und zog dann den anderen Fuß nach, der auch schon knöcheltief im Morast steckte. Es schmatzte wieder. Man durfte nicht zu lange an einer Stelle stehen bleiben. Man durfte auch möglichst nicht durch die Nase atmen. Die Ära der Nachttöpfe und ungeklärten Gerberei-Kloake war zwar Geschichte, aber die Fleetbrühe trotzdem alles andere als Kölnisch Wasser.
    Max beschloss, sein Suchgebiet ein wenig näher zum Ufer und zur Brücke zu verlegen. Zuvor blickte er kurz in die Runde und schmunzelte über die skurrile Szenerie: Eine Handvoll erwachsener Menschen in abenteuerlich bunten Regenjacken, Angelhosen und Gummistiefel watete durch den Matsch, den Blick konzentriert nach unten gerichtet wie eine Sektenherde Sinnsuchender. Jeder trug Gummihandschuhe, ein Plastikeimerchen und eine kleine Schaufel – Utensilien, die Professor Straschitz zuvor verteilt hatte, mit einer Ansage frei nach Monty Pythons »Life of Brian«: »Zur Grabungsgruppe? Nach vorn, jeder nur ein Eimerchen, ab nach unten!«
    Etliche Studenten waren mittlerweile längst dem Beispiel des Angeekelten gefolgt und hatten sich verdrückt. Aber die, die geblieben waren, hatten ihren Spaß. Allen voran natürlich Horst Straschitz, der unverdrossen durch den Schlamm von einem Studenten zum nächsten stapfte, deren obskure Fundstücke begutachtete und – für alle hörbar – lautstark kommentierte.
    »Ein kaum verrostetes Stück Eisen muss nicht neu sein! Im Schlick bleibt Eisen sehr lange vor Rost geschützt. Rost ist Oxidation, Oxidation braucht Sauerstoff – und der ist knapp, da unten im Matsch! Sie können ja probeweise Ihren Kopf reinrammen und versuchen zu atmen! Kleine Exkursion in die Chemie.«
    Oder: »Gratuliere! Sie haben eine D-Mark gefunden! Nicht gerade alt, aber immerhin war die schon einen Monat

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