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Der Rikschamann

Der Rikschamann

Titel: Der Rikschamann Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jan Schroeter
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eher erreichen als der Mann, der vor ihm die Anhöhe hinunter stürmte. Max mobilisierte die letzten Kräfte. Das Gelbe Ungetüm schob sich gerade über die Kante der obersten Treppenstufe, als unmittelbar hinter ihnen der Verfolger in einer Lawine aus Erde, Geröll und Pflanzenteilen auf dem Weg landete.
    Einen Augenblick lang hing die Rikscha in der Schwebe, über einem grandiosen Flusspanorama mit bunten Schiffslichtern und dem strahlend ausgeleuchteten EADS-Werksgelände am gegenüberliegenden Ufer. Dann kippte die Fuhre nach vorn und es gab kein Zurück. Max versuchte die Stufen schräg zu kreuzen, um Tempo und Neigungswinkel zu verringern, so gut es ging. Es ging leider nicht besonders gut. Die Rikscha bockte und sprang, mit jedem Absatz wurde es schlimmer. Abwechselnd hob es Max aus dem Sattel oder knallte ihm derb den Sitz unter die Hoden. Bloß nicht das Vorderrad verkanten, immer sachte anbremsen! Für Schmerzensschreie blieb keine Zeit. Dafür protestierte das Gelbe Ungetüm mit allen Geräuschen, zu denen sein gequältes, überstrapaziertes Material imstande war: Scheppern, ächzen, quietschen, kreischen. Aber kein Splittern, Bersten, Brechen – nicht einmal nach dem letzten Sprung über drei Stufen, der sie auf den rettenden Elbuferweg brachte. Noch während die Rikscha ausrollte, peilte Max zurück zum weit über ihnen aufragenden Hang. Von den Verfolgern war nichts mehr zu sehen.
    Davongekommen.
    Dann sah er Elke. Sie hing quer auf der Rückbank, die Finger um die Seitenlehne gekrampft, dass die Knöchel weiß hervortraten. Die Augen hielt sie geschlossen, und aus einer Verletzung unter dem Haaransatz tropfte Blut. Erschrocken glitt Max vom Sattel und quetschte sich neben das Mädchen auf die Bank.
    »Elke! Was ist? Sag’ was…«
    Sie bewegte sich, stemmte sich stöhnend hoch, öffnete endlich die Augen und sah ihn tadelnd an. »Vielleicht kannst du mich in diesem Ding auch mal ganz normal spazieren fahren?«
    Stille, bis auf gedämpftes Rauschen in einem Abflussrohr. Erst als er völlig davon überzeugt war, dass sich außer ihm niemand hier befand, traute sich Pieter Westheim, die Stahltür neben dem großen Rolltor mehr als nur einen Spalt breit zu öffnen und die Tiefgarage zu betreten. Dauerlicht aus diversen Energiesparlampen beleuchtete die öde Betongruft und reflektierte auf dem polierten Chrom der abgestellten Fahrzeuge. Pieter eilte mit schnellen Schritten hinüber zu seiner abgeteilten Box unmittelbar vor dem Privatfahrstuhl, sah den Z 3 auf dem angestammten Platz stehen und atmete erst einmal durch. Von außen sah die Karre schon mal aus wie immer, keine Delle, kein Kratzer, die mit 24-karätigem Blattgold belegten Sportfelgen blitzten unversehrt. Pieter öffnete den BMW mit dem Ersatzschlüssel – auch drinnen schien alles in Ordnung zu sein, Navi, HiFi, alles am Platz. Aber das hieß noch gar nichts. Schließlich hatte die Leiche auf dem Foto nicht im Wagen, sondern oben im Penthouse gelegen. Hoffentlich »hatte«. Vielleicht ja nicht mal »Leiche«. Pieter hielt es immer noch für möglich, dass hier jemand nur einen großen Bluff veranstaltete. Ein Foto bewies noch gar nichts, moderne Bildbearbeitungssoftware gab es im Supermarkt und ließ sich von jedem Deppen bedienen. Außerdem gab es ja auch noch die guten, alten Schauspielertricks mit Schminke und Theaterblut. Den Finger hatte man vielleicht irgendeiner Leiche abgehackt. Selbst wenn der wirklich von Nastja stammte, müsste das Mädchen ja nicht tot sein. Für eine Million Euro würde so mancher noch ganz andere Körperteile opfern, schätzte Pieter. Bluff oder nicht, er müsste jetzt oben nachsehen…
    Der Lift brachte ihn unmittelbar vor die Tür zum Penthouse, die er ebenfalls mit dem Zweitschlüssel öffnete. Einen Augenblick lang verharrte er bewegungslos, überwältigt von Furcht. Noch ist alles nicht wahr, schrie es in ihm, schließ ab, dreh um, lauf weg!
    Dann knipste er das Licht an.
    Nichts sah auf den ersten Blick anders aus als sonst. Hier auf dem Teppich hatten sie gelegen – das Mädchen, das Messer, er selbst. Pieter stürmte durch alle Zimmer. Alles aufgeräumt, als wäre die Putzkolonne gerade fertig. Nicht mal benutzte Gläser standen herum. Dabei hatten sie garantiert reichlich gesoffen, sonst wäre er nicht so hinüber gewesen. Pieter erinnerte sich immer noch an gar nichts, was die Geschehnisse der letzten Nacht hier im Penthouse betraf. Der Blick ins Schlafzimmer ließ ihn zusammenzucken: Neben dem

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