Der Rikschamann
lieferten die gnadenlose Antwort auf die Frage, warum ihr die einschlägigen Erfahrungen fehlten, die ihre Altersgenossinnen schon längst gesammelt zu haben vorgaben. Spiegel stellten grausam bloß, warum ein Junge wie Max lieber nicht auch nur eine wache Minute gemeinsam mit ihr in einem Bett verbringen wollte. Nicht einmal gemeinsam mit ihr in einer Wohnung. Wie zum Hohn den albernen Elvis aus der albernen Wurlitzer sein albernes »Muss i denn« trällern lassen und dann abhauen, bevor der Fettkloß unter der Decke aufwacht. Sie hatte eine Stunde gebraucht, um aus dem Bett zu kommen und nicht allzu verheult auszusehen. Wenigstens konnte sie dann schnell im Badezimmer verschwinden, ohne ihrem Vater über den Weg zu laufen, der – den Geräuschen nach – in der Küche herumpusselte.
Elke schluckte schwer an der Demütigung, schmiss das nasse Handtuch über den Rand der Badewanne und zog die frischen Sachen an, die sie sich bereitgelegt hatte. Bluse wie ein Zirkuszelt, Elefantenunterhose, Yeti-Jeans – Sprüche, die sie seit dem Kindergarten verfolgten, in Umkleidekabinen, auf Pausenhöfen, auf der Straße. Arsch mit eigener Postleitzahl. Fertig angekleidet, riskierte sie doch einen schnellen Blick in den Spiegel.
Beschlagen. Zum Glück.
Eine Möglichkeit bliebe noch, schöpfte sie wieder einen Funken Hoffnung. Elke ging in die Küche, wo ihr Vater – noch immer im Bademantel – hinter der Zeitung verschanzt am Tisch saß. Sie rückte sich demonstrativ laut einen Stuhl zurecht und nahm direkt gegenüber Platz. Ohne die Lektüre sinken zu lassen, griff Straschitz hinter sich in ein Regal, langte ein Familienglas Nutella herunter und schob es Elke zu. Sie ignorierte es tapfer.
»Hat Max irgendwas für mich dagelassen? Eine Nachricht?«
»Nein«, kam es knapp hinter der Zeitung hervor. Elke schraubte den Deckel vom Nutellaglas, klaute ihrem Vater den Löffel aus dem Kaffeebecher und schaufelte sich eine Kelle Schokomatsch pur in den Schlund. Die erste. Dann die zweite. Und die dritte. Straschitz ließ die Zeitung sinken und starrte sie an. Die Faszination des Grotesken, dachte Elke. Könnte mal meine Doktorarbeit werden. Vierte Kelle…
»Dein Urgroßvater hat sich totgesoffen. Aber Nutella funktioniert bestimmt auch.«
»Kleine Exkursion in die Familienchronik?« Elke war übel. Allerdings war ihr schon im Bad übel gewesen. Also die fünfte…
»Ich habe mit deiner Mutter telefoniert. Sie holt dich nachher ab.«
»Ihr seid euch nie einig. Außer, wenn es gegen mich geht. Das schafft ihr immer!«
»Es geht nun mal nicht anders.«
»Und wenn Max wiederkommt und meine Hilfe braucht?«
Hau rein die braune Masse. Straschitz sah gleichermaßen fasziniert wie erschüttert zu, wie Elke mit dem Löffel das klebrig-zähe Schokozeug abbaute, systematisch wie ein Torfstecher. Kinder sind kompliziert, dachte er. Frauen sind noch viel komplizierter. Weitaus am kompliziertesten sind Mädchen, die keine Kinder mehr sind und noch nicht Frauen.
»Der kommt nicht wieder.«
»Wieso? Was hab’ ich ihm getan?«
Sie beugte ihr Gesicht so weit über das offene Glas, dass die Haare wie ein Vorhang ihre Augen verschatteten. Weinte sie etwa? Wahrscheinlich kürzt sie bloß den Löffelweg ab, beruhigte sich Straschitz. Tatsächlich schaufelte Elke unentwegt weiter.
»Du hast ihm gar nichts getan«, erklärte der Professor. »Ich habe ihn rausgeworfen und ihm den Umgang mit dir verboten!«
»Du hast was?« Elke vergaß sogar das Nutellaglas.
»Er hat mir von letzter Nacht erzählt. Das ist alles viel zu gefährlich, Elke.«
»Deshalb braucht er ja meine Hilfe!«
»Und wenn dir etwas zustößt? Was soll ich deiner Mutter…«
»Ach so!« funkelte Elke ihren Vater aufgebracht an. »Und ich dachte schon fast, du machst dir Sorgen um mich! Aber natürlich geht es wieder nur um dich! Das ist echt zum…«
Ihr Magen fuhr plötzlich Expressfahrstuhl. Sie bekam gerade noch eine Hand vor den Mund, sprang auf und rannte aus der Küche. Straschitz seufzte, schraubte den Deckel aufs Nutellaglas und versenkte es gelassen im Abfalleimer. »Alkohol ist wahrscheinlich gesünder«, murmelte er und griff wieder nach seiner Zeitung.
Der Badezimmerspiegel war nicht mehr beschlagen, also vermied Elke gewohnheitsmäßig den Blick hinein, als sie sich nach unfreiwilliger Nutella-Entsorgung ausgiebig die Zähne putzte. Ihr Spiegelbild, wurde ihr plötzlich klar, würde sie zwar deprimieren, aber die Wut auf ihren Vater überlagerte
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