Der Ring an meiner Hand
habe beschlossen, wieder mit der Außenwelt Kontakt aufzunehmen. Dafür brauche ich das Telefon im Laden im Ort.“ Er hielt inne. „Ist das ein Problem?“
„Nein“, entgegnete sie rasch. „Natürlich nicht. Ich wollte nur wissen, wo du warst.“
„Ich dachte, du wärst einfach nur erleichtert“, erwiderte er knapp.
Als er am Nachmittag wieder das Cottage verließ, stellte sie ihm keine Fragen mehr.
Und genauso vergingen auch die darauffolgenden Tage, wobei seine Besuche im Dorf immer länger zu dauern schienen. Oder empfand sie es nur so, weil sie sich selbst immer rastloser fühlte?
Rafaele verhielt sich ihr gegenüber zunehmend abweisender, auch die Nächte verbrachte er allein. Emily blieb eine Einsamkeit, die immer mehr an Reiz verlor.
Zwar aßen sie noch gemeinsam, doch unterhielten sie sich dabei kaum. Die Kameradschaft, die sie während der Mahlzeiten so kurz geteilt hatten, war verschwunden, als hätte sie nie existiert. Und Emily vermisste sie. Ihr fehlten die Scherze und auch die Spannungen. Denn sein Schweigen ertrug sie noch wesentlich schlechter als alles andere.
Was sie selbst anging, verbrachte sie so viel Zeit wie möglich in ihrem Zimmer, um einen beschäftigten Eindruck zu vermitteln. Manchmal las sie oder widmete sich einem der Puzzle, die sie im Schrank gefunden hatte, aber oft lag sie auch einfach auf dem Bett und starrte an die Decke.
Heute, am dritten Morgen, hielt sie es nicht mehr aus, ihm zuzusehen, wie er seine Jacke anzog. Sie selbst trug einen schwarzen Rollkragenpullover und einen zimtfarbenen Rock. Ihre warmen Hosen waren alle in der Wäsche.
„Bereitest du dich auf deine Verabredung vor?“, fragte sie giftig.
Rafaele sah sie mit hochgezogenen Augenbrauen an. „Wovon sprichst du?“
Sie zuckte abweisend die Schultern. „Diese endlosen täglichen Wanderungen. Ich dachte, du hättest vielleicht eine hübsche Schottin mit funkelnden Augen getroffen.“
„Benimm dich nicht wie ein kleines Kind“, erwiderte er kühl und ging.
Emily sah auf die Uhr. Und nein, sie versuchte nicht zu schätzen, wann Rafaele wohl zurückkäme. In diesem Moment hörte sie ein schlitterndes Geräusch, gefolgt von einem lauten Plumpsen, was sie zusammenzucken ließ. Hastig schlüpfte sie in ihre Jacke und die alten Gummistiefel und eilte nach draußen.
Eine große Schneeplatte hatte sich vom Dach gelöst und war hinuntergerutscht. Eine Woge der Nostalgie durchflutete Emily. Sie erinnerte sich an das letzte Mal, als das Haus ihres Vaters fast im Schnee versunken war. Damals, als Elfjährige, lief sie begeistert im Garten umher und baute einen Schneemann, der größer war als sie selbst.
Jetzt betrachtete sie den frischen Schnee und musste schmunzeln.
Rafaele hat mich doch vorhin ein Kind genannt, schoss es ihr durch den Kopf. Nun, dann würde sie seine Meinung eben bestätigen!
Sie begann, den Schnee zu Bällen und Rollen zu formen. Anfangs waren ihre Finger eiskalt, doch je länger sie arbeitete, desto wärmer wurde ihr.
Zur Bildhauerin werde ich es nie bringen, entschied sie, als sie die ungleichmäßigen, dafür aber breiten Schultern ihrer Figur in Angriff nahm. Dafür hatte sie zum ersten Mal seit Tagen Spaß und summte sogar vergnügt vor sich hin.
Sie holte einige Kohlenstücke aus dem Keller, um Augen, Mund und Knopfleiste ihres Schneemanns zu formen. Zum Schluss holte sie noch eine Möhre aus der Küche für die Nase. Dann trat sie einen Schritt zurück, um ihr Werk kritisch zu begutachten.
„Du bist ein Bild von einem Mann“, sagte sie und kicher te. „Oder zumindest könntest du eins sein …“
Sie zog die Möhre aus dem Kopf und platzierte sie stattdessen in der Körpermitte, genau unterhalb der Knopfleiste.
Hinter ihr erklang spöttisch Rafaeles Stimme. „Sehr künstlerisch.“
Weil sie seine Ankunft gar nicht bemerkt hatte, erschrak sie. Er stand ein paar Meter entfernt und betrachtete ihren Schneemann ausdruckslos. Einen Moment streifte sein kalter sarkastischer Blick auch sie, dann wandte er sich ab und ging ohne ein weiteres Wort auf das Cottage zu.
Zunehmend wütend sah sie ihm nach. Sie gönnte sich einen harmlosen Spaß, und er verdarb ihr alles.
„Humorloser Mistkerl“, zischte sie leise, griff eine Handvoll Schnee, formte sie zu einem Ball und warf. Sie traf ihn genau zwischen den Schulterblättern.
Rafaele erstarrte, dann drehte er sich mit ungläubiger Miene zu ihr um. Mit trotzig funkelnden Augen hielt Emily seinem Blick stand und erkannte, dass
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