Der Ring der Kraft - Covenant 06
Ohne eine Antwort abzuwarten, folgte er Pechnase und dem Steinmeister.
Seine Toten , stöhnte Linden inwendig, als sie sich gleichfalls anschloß. Die Toten Andelains. Seinen Vater Nassic. Seine Mutter Kalina. Seine Frau und den Sohn, deren Blut er für Steinhausen Mithil hatte vergießen müssen. Oder gar Hollian selbst? Herrgott! Wie wird er das verkraften? Er wird um den Verstand kommen und Andelain nicht wieder verlassen.
Linden tauchte in den Strom und schwamm in wilder Hast flußabwärts; an ihrer Seite schwamm kraftvoll die Erste.
Linden war auf die eindringliche, scharfe Wirkung des eisigen Wassers nicht ausreichend gefaßt gewesen. Indem ihr Wahrnehmungsvermögen an Reichweite und Differenzierung gewann, machte es sie immer empfindsamer für das, was sie fühlte. Die Tage, die sie zusammen mit Covenant und Sunder auf dem Mithil verbracht hatte, waren weniger schlimm gewesen. Die Kälte mißhandelte ihr Fleisch, zermürbte ihre überreizten Nerven. Immer wieder glaubte sie, jetzt endlich nicht mehr anders zu können und aufheulen zu müssen, das Sonnenübel werde sie nun vollends in seine Gewalt bringen. Aber die unerschrocken starken Muskeln in der Schulter der Ersten gaben ihr Halt. Und Covenant blieb bei ihr. Während des ständigen Herabprasselns von Regen, des Donners, der durch die Luft dröhnte, der Blitze, die stets aufs neue den Himmel zerrissen, befand sich seine hartnäckige Zielstrebigkeit andauernd innerhalb der Reichweite ihrer Sinne. Trotz Verzweiflung und bedrückenden Kummers wollte sie leben – jede Schlechtigkeit überleben, die Lord Foul sich für sie ausdenken mochte. Bis sie die Gelegenheit erhielt, seinem Treiben ein für allemal ein Ende zu machen.
Ein oder zwei Schwimmzüge vor der Ersten teilte Pechnase die Fluten, immer wieder im Zucken von Blitzen sichtbar. Mit einer Hand hielt er den Steinmeister über Wasser. Und Sunder trug Hollian, als schliefe sie nur.
Irgendwann um die Mitte des Tages schoß der Strom in einen Zusammenfluß, dessen vehementes Tosen die Gefährten in den neuen, gemeinsamen Wasserlauf riß, als wären sie nur gefallenes Laub im Sturm. Der Graue und der Weiße Fluß vereinten sich und flossen als Seelentrostfluß weiter; dessen Wasser beförderte die Gefährten während des ganzen restlichen Tages und auch am gesamten nächsten Tag quer durchs Land. Die unausgesetzten Regenfälle beeinträchtigten Lindens Orientierung. Am Abend jedoch, als der Himmel klarer geworden war und über der vom Regen zerwühlten Ödnis der im Abnehmen begriffene Mond aufging, konnte sie feststellen, daß der Fluß inzwischen einen ostwärtigen Verlauf nahm.
Am zweiten Abend, nachdem sie den Zusammenfluß von Grauem und Weißem Fluß passiert hatten, fragte die Erste Covenant, wann sie Andelain erreichen würden. Covenant und Linden hatten sich möglichst dicht an der Hitze des kleinen Lagerfeuers niedergelassen; Pechnase und die Erste hockten ebenfalls nah an den Flammen, als bräuchten sie mehr als lediglich Diamondraught, um ihren Mut zu bewahren. Sunder dagegen kauerte genauso ein Stück weit abseits, wie er es schon an den beiden vergangenen Abenden getan hatte, saß in seinem Schmerz zusammengesunken auf dem felsigen Untergrund des Lagerplatzes, Hollians erstarrte Gestalt vor sich ausgestreckt, als könne sie praktisch jeden Moment wieder zu atmen anfangen. Hohl und Findail standen nebeneinander am Rande des Feuerscheins. Linden hatte sie nicht im Wasser gesehen, wußte nicht, auf welche Weise die zwei das vom Regen gepeitschte Ödland durchquert hatten. Aber jeden Abend fanden sie sich kurz nach Sonnenuntergang ein und warteten, ohne ein Wort zu sprechen, das Verstreichen der Nacht ab.
Für einen Moment blickte Covenant, bevor er antwortete, nachdenklich in die Flammen. »Im Schätzen von Entfernungen bin ich ziemlich schlecht. Ich habe keine Ahnung, wie weit wir inzwischen gekommen sind.« Von der Kälte wirkte sein Gesicht, als bestünde es aus Wachs. »Aber das da ist der Seelentrostfluß. Er fließt von hier aus fast direkt zum Donnerberg. Wir müßten ...« Er streckte seine Hände ans Feuer, viel zu nah an die Flammen, als hätte er den Grund für ihre Gefühllosigkeit vergessen. Sein Leprotiker-Instinkt jedoch ließ ihn sie sofort zurückziehen. »Das hängt von der Sonne ab. Es steht ja wieder 'n Wechsel bevor. Falls keine Sonne der Dürre kommt, wird der Fluß weiter Wasser führen. Wir müßten Andelain im Laufe des morgigen Tages erreichen.«
Die Erste
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