Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Ring

Der Ring

Titel: Der Ring Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Melko
Vom Netzwerk:
durchdachte Organe. Einen Moment lang blickte er mich aus einem riesigen, wässrigen Auge an, fast so groß wie sein Kopf, bevor er einen mächtigen Satz machte und vom Unterholz verschluckt wurde. So viel Kraft hätte ich dem fragilen Körper gar nicht zugetraut.
    »Ein schönes Geschöpf.«
    Überrascht drehte ich mich um und entdeckte Jol. »Stimmt.«
    »Im Krankenhaus hab ich vom Fenster aus immer zum Dschungel hinübergeschaut und mich gefragt, wie es da drinnen wohl aussieht. Bestimmt gibt es dort Schlangen, dachte ich mir, und Krokodile, so lang und breit wie Lastwagen. Aber auf so kleine, zarte Frösche wäre ich nie gekommen. « Sie stand direkt neben mir. Ihre nassen Haare waren noch dunkler als zuvor; anscheinend hatte sie sich gerade im Fluss abgekühlt, denn die Krankenhauskleidung klebte an ihrer Haut. »Fühlst du dich jetzt einsam?« Sie fuhr sich durchs Haar. »Ohne deinen Pod, meine ich.«
    »Ist nicht so schlimm. Wahrscheinlich sollte ich mich schlecht fühlen, aber eigentlich … Nein.«
    »Zwei Menschen reichen für einen Pod.«
    Unsere Blicke trafen sich. Sie hatte mir ein eindeutiges Angebot gemacht, und sie wirkte genauso ungezähmt und lebendig wie der Dschungel um uns herum. Aber ich traute meinen Gefühlen nicht – ohne den Pod war ich meinem Innenleben schutzlos ausgeliefert. Ohne die gemeinsame Verarbeitung im Konsens konnte ich es nicht kontrollieren.
    Anstatt zu antworten, starrte ich auf den schlammigen Waldboden. In der Nähe war, vielleicht schon während der letzten Regenzeit, ein Baum umgestürzt, so dass über uns ein Fetzen Himmel durch das Blätterdach blinzelte. Prompt hatten sich junge Bäume und Büsche in ein verzweifeltes Rennen Richtung Sonne gestürzt, während sich der abgestorbene Stamm selbst in ein eigenes Ökosystem verwandelt hatte: Termiten flitzten über die fleckige Rinde, verschwanden im Inneren und tauchten anderswo wieder auf, Spinnen woben ihre Netze zwischen verrottenden Ästen, und mitten im freiliegenden Wurzelwerk hockte ein schwarzes Aguti, das auf einer Paranuss kaute und uns gelassen beobachtete.
    Vorsichtig schlich sich Jol an das Nagetier heran, um es aus der Nähe zu studieren – als sie plötzlich mit dem Fuß im Boden einbrach. Ich hielt sie am Kittel fest und zerrte sie zurück.
    Neben dem Stamm erhob sich ein bräunlicher, etwa zwei Meter hoher Hügel. Ursprünglich hatte ich ihn für einen Haufen Mulch gehalten, der durch den Sturz des Baums freigelegt worden war, doch jetzt, bei genauerer Betrachtung, stellten wir fest, dass es sich um einen Ameisenhaufen handelte. Offensichtlich hatten die Ameisen die gesamte Umgebung unterhöhlt – vielleicht als Vorposten ihrer Verteidigungsanlagen oder auch, weil sie Baumaterial brauchten. Jedenfalls gab die Erde sofort nach, wenn sie etwas stärker belastet wurde. Nun sah ich auch die Kolonnen von Ameisen, die in allen Richtungen hin und her marschierten, oft mit Zweigen oder Blättern auf dem schmalen Rücken. Die ganze Gemeinschaft hatte sich einer großen Aufgabe verschrieben: dem Überleben des Ameisenstaats.
    Jol klammerte sich an meinen Arm und blickte hinab in das Loch, das sie gerissen hatte: Dort wimmelte es jetzt von wütenden Ameisen. Ich trat einen Schritt zurück, weil ich keine Lust hatte, gebissen zu werden.
    Immerhin hatte sich die Spannung zwischen uns mittlerweile gelegt. »Komm, gehen wir zurück ins Lager«, sagte ich.
    Als wir nach Mitternacht das Boot zu Wasser ließen, setzte ich mich gleich wieder an die Pinne. Gueran starrte mich wütend an, sagte aber nichts, während ich einfach so tat, als hätte ich gar nichts davon mitbekommen. Eine leichte Übung, da ich mich auch von den anderen weitgehend zurückgezogen hatte. Wir sprachen kaum noch miteinander.
    Jol beobachtete mich – vielleicht lauerte sie auf ein Zeichen, das ich ihr nicht geben wollte –, und alle paar Sekunden huschte der Blick einer meiner Podpartner zu mir hinüber. Dabei hätte ich auch so gewusst, dass sie pausenlos über mich nachdachten. Ich wusste, wie es sich anfühlte, eine Vier zu sein, wenn man früher eine Fünf gewesen war; ich wusste sogar, wie es sich anfühlte, ein Singleton zu sein, wenn man früher ein Quintett gewesen war. Schließlich hatte ich Stroms und Medas Erinnerungen an die Zeiten ihrer Absonderung vom Pod geteilt.
    Aber bei mir war es anders, ich erlebte die Absonderung anders als sie: Ich war geradezu erleichtert, fühlte mich richtig gut – als hätte sich ein Teil von mir, der

Weitere Kostenlose Bücher