Der Riss im Raum
immerhin reichen können.«
Charles Wallace warf Meg einen beschwichtigenden Blick zu, und daraufhin hielt sie den Mund. Wieder griff er in die Tasche, doch ohne diesmal die Feder herauszuholen. Ein verstohlenes Lächeln für Meg genügte: Er hatte nicht nur an die Drachen gedacht, sondern auch auf das Gespräch in der Küche und den Sturm draußen gelauscht. Jetzt legte er den Kopf schief, eine für ihn typische Haltung, und fragte:
»Dieser Riß im Raum, Mutter, wirkt sich der auch auf unser eigenes Sonnensystem aus?«
»Genau das ist die Frage«, erwiderte Frau Murry.
»Mir ist das alles viel zu kompliziert«, wischte Sandy den Einwand brüsk zur Seite. »Das Bankwesen ist bestimmt viel einfacher.«
»Und einträglicher«, ergänzte Dennys.
Die Fensterscheiben vibrierten im Wind. Die Zwillinge schauten hinaus in die Dunkelheit und den Sturm.
»Gut, daß wir noch vor dem Abendessen im Garten waren und das Gemüse geerntet haben.«
»Das ist ja beinahe ein Hagelwetter.«
Meg war zutiefst beunruhigt. »Ist dieser – dieser Riß im Himmel eigentlich gefährlich?«
»Meg, ich sagte doch schon, daß wir noch zu wenig darüber wissen. Das ist vielleicht ein uraltes Phänomen, und wir kennen es nur nicht, weil uns bisher die entsprechenden Instrumente zur Beobachtung fehlten.«
»Wie bei den Farandolae«, sagte Charles Wallace. »Wir bilden uns ein, alle unsere Entdeckungen seien tatsächlich etwas Neues.«
»Sind wir in Gefahr oder nicht?« Meg ließ nicht locker.
»Also, noch einmal, Meg: Wir wissen es nicht. Deshalb ist es ja so wichtig, daß Vater sich jetzt mit den anderen Experten trifft.«
»Das heißt, eine Gefahr ist nicht auszuschließen?«
»Das ist sie nie.«
Meg starrte auf die Überreste der Mahlzeit. Drachen im Garten und Risse im Weltall. Louise und Fortinbras hatten seltsame Eindringlinge entdeckt. Charles Wallace war blaß und geschwächt. Das alles gefiel ihr nicht. »Ich helfe dir beim Geschirr«, sagte sie.
Schweigend machten Mutter und sie sich an die Arbeit. Frau Murry hatte die widerstrebenden Zwillinge aufgefordert, ihre Musikstücke für das Schulorchester zu üben. Dennys spielte sehr gut Flöte, Sandy begleitete ihn, wenn auch mit wesentlich weniger Geschick, auf dem Klavier.
Die vertrauten holprigen Klänge halfen Meg, sich wieder zu beruhigen. Als die Töpfe und Pfannen gereinigt und poliert an den Haken hingen und der Geschirrspüler schnurrte, ging Meg in ihre Dachkammer, um endlich die Schularbeiten zu machen. Dieser Raum sollte eigentlich ihr privates Reich sein, aber leider wurde der Dachboden auch für andere Zwecke herangezogen. Hier bauten die Zwillinge mit Vorliebe ihre elektrische Eisenbahn auf; hier stand der Ping-Pong-Tisch; hier wurde alles aufgestapelt, was im Haus sonst keinen Platz fand, aber noch nicht weggeworfen werden sollte.
Megs Zimmer lag am äußersten Ende des Geschosses, aber die Zwillinge scheuten selten den Weg, wenn sie Hilfe bei ihren Mathematik-Hausarbeiten brauchten; und Charles Wallace wieder hatte einen sechsten Sinn für Megs gelegentliche Angstausbrüche. Dann kam er unaufgefordert zu ihr und setzte sich an das Fußende ihres Bettes. Nur wenn sie um ihn selbst Angst hatte – so wie jetzt – war er ihr nicht willkommen.
Noch immer klatschte der Regen gegen die Scheiben, hatte aber bereits nachgelassen. Der Wind schlug von Süd nach West um; der Sturm verzog sich; es wurde kühler. In Megs Zimmer war es sogar richtig kalt. Sie verzichtete aber darauf, das elektrische Öfchen anzustecken, das ihr die Eltern gegeben hatten, damit sie nicht frieren mußte, wenn die warme Luft aus dem Treppenhaus nicht ausreichte. Statt dessen räumte sie ihre Schulhefte wieder weg und schlich auf Zehenspitzen nach unten.
Die siebente Treppenstufe ließ sie wohlweislich aus, denn die knarrte nicht nur verräterisch, sondern reagierte gelegentlich auch auf jede Belastung mit einem Geräusch, das wie ein Peitschenknall klang.
Die Zwillinge übten noch. Mutter saß im Wohnzimmer vor dem Kamin und las Charles Wallace vor. Es ging nicht um Tiere oder Hexen – solche Erzählungen hatten bloß Sandy und Dennys bevorzugt, als sie sechs waren —, sondern um einen Artikel aus einem wissenschaftlichen Magazin: »Die Polarisations- und Hyperpolarisations-Mechanismen von Molekularstrukturen.« Autor war ein Chemiker namens Peter Liebmann.
»Du liebe Güte!« dachte Meg und seufzte. »So etwas bekommt Charles Wallace als Gutenachtgeschichte vorgesetzt; und dann
Weitere Kostenlose Bücher