Der Riss im Raum
Schatten über die Mauer huschen und prallte zurück. Louise die Große! Es mußte Louise sein! Wie sollte Meg auf die Mauer steigen oder auf die obere Wiese laufen, solange sie fürchten mußte, daß Louise – oder gar der Schatten des großen Unbekannten – ihr im Dunkeln auflauerten? Ihre Beine waren schwer wie Blei; sie setzte sich auf einen großen Kürbis, um zu verschnaufen. Der eisige Wind streifte ihre Wangen. Kornähren rauschten wie Wellen am Meer.
Meg blickte sich ängstlich um. Alles war verschwommen. Das kam davon, merkte sie erst jetzt, daß ihre Brille von den tropfenden Sonnenblumen und Apfelbaumästen Spritzer abbekommen hatte. Sie nahm sie ab, tastete unter dem Umhang nach dem Rocksaum und wischte die Gläser blank. Jetzt konnte sie mehr erkennen, obwohl der Garten noch immer wie eine Unterwasserlandschaft aussah.
Sie lauschte, endlos. Hinter ihr plumpsten vereinzelt Äpfel ins Gras. Der Wind raschelte in den Zweigen; die Blätter tuschelten. Meg schloß die Augen zu schmalen Schlitzen und spähte in die Dunkelheit: Etwas kam auf sie zu, näherte sich …
Schlangen meiden Kälte und Finsternis. Meg wußte das. Trotzdem …
Louise!
Ja, es war die große, schwarze Schlange. Sie löste sich aus dem Schatten der Mauer – langsam, mißtrauisch, stets auf der Hut. Megs Herz klopfte bis zum Hals, obwohl sie sich von Louise nicht bedroht fühlte; nicht jetzt. Aber Louise lag auf der Lauer; sie wartete auf etwas, und diesmal offenbar auf einen unwillkommenen Gast.
Fasziniert folgte Meg mit den Augen dem weiten Pendeln des Schlangenkopfes – bis Louise sie erkannte und ihr zuzunicken schien.
»Margaret!« rief eine Stimme in ihrem Rücken.
Erschrocken fuhr sie herum.
Es war Herr Jenkins! Fassungslos starrte sie ihn an.
»Dein kleiner Bruder riet mir, dich hier zu suchen, Margaret«, sagte er.
Ja, Charles konnte unschwer erraten haben, wo Meg sich jetzt aufhielt. Aber warum sollte Herr Jenkins ausgerechnet mit Charles Wallace gesprochen haben, er, der noch nie zu Besuch gekommen war, der grundsätzlich keine Elternbesuche machte? Auseinandersetzungen stellte er sich nur in der Anonymität und Geborgenheit seines Büros. Und jetzt sollte er höchstpersönlich durch das regennasse Gras gestapft sein, unter tropfenden Bäumen, statt Meg von einem der Zwillinge holen zu lassen?
Er sagte: »Ich habe mich herbemüht, Margaret, weil ich glaube, mich für meine rüde Art anläßlich deines Besuches in der Vorwoche entschuldigen zu müssen.«
Er bot ihr die Hand: Im zitternden Mondlicht wirkte sie bleich und durchsichtig.
Völlig verwirrt wollte Meg seine Hand schon ergreifen, da richtete sich hinter ihr Louise plötzlich auf der Mauer zu voller Länge auf, zischte wütend und ließ ein seltsames, warnendes Klickern hören.
Meg wandte sich um: Louise wirkte groß und gefährlich wie eine Kobra. Haßerfüllt starrte sie Herrn Jenkins an; weit pendelte ihr Leib zurück – dann stieß sie zu …
Herr Jenkins schrie auf, wie Meg noch nie einen Menschen schreien gehört hatte: Es war ein durchdringendes Kreischen und Winseln in den höchsten Tönen …
… und dann stieg er in die Luft. Wie ein großer, flügelschlagender Vogel erhob er sich in den Nachthimmel, immer noch schreiend, wurde schmäler, eine messerscharfe Kontur, ein Schlitz, eine Leere, ein Nichts.
Jetzt hörte Meg sich selbst schreien.
Das konnte sie doch nicht geträumt haben!
Sie war allein. Niemand war da.
Oder doch? Glitt da nicht Louise in ihre Mauerritze und verschwand?
Es war bestimmt eine Halluzination gewesen. Ihre erhitzte Phantasie, der plötzliche Wetterumschlag, die vielen Unglücksmeldungen hatten ihr einen Streich gespielt …
Dort, wo soeben noch Herr Jenkins gewesen war, stieg eine dicke, übelriechende Rauchwolke auf. Es stank wie nach verrottetem Kohl, wie nach Blumenstielen, die man zu lange in der Vase gelassen hatte, ohne das Wasser zu wechseln.
Das konnte unmöglich Herr Jenkins gewesen sein!
Wieder schrie sie auf, in panischem Schrecken, denn abermals stürzte ihr eine dunkle Gestalt entgegen – Es war Calvin. Calvin O’Keefe.
Vor Erleichterung brach sie in Tränen aus.
Er sprang über die Mauer, nahm sie schützend in seine Arme, hielt sie ganz fest. »Meg! Meg, was hast du?«
Sie heulte hysterisch, unfähig, sich zu beruhigen.
»Meg, was ist geschehen? So sag doch endlich, was geschehen ist!« Er packte sie hart an den Schultern, schüttelte sie.
Stockend begann sie zu berichten, versuchte, ihr
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