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Der Riss im Raum

Der Riss im Raum

Titel: Der Riss im Raum Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Madeleine L'Engle
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Experiment, aber das hält dich nicht davon ab, deine Familie zu ernähren. Solche scheinbaren Kleinigkeiten bestärken mich in meinem Optimismus; da kann mein Verstand noch so pessimistisch bleiben. Und wir beide sind klug genug, zu wissen, welch enge Grenzen unserem Hirn gesteckt sind. Der reine Intellekt ist ausgesprochen unzuverlässig; er darf uns nicht als Richtschnur dienen.«
    »Dein Vater ist ein kluger Mensch!« lobte Proginoskes.
    »Hast du meine Erinnerungen belauscht?«
    »Ich teilte sie mit dir. Die wichtigsten Gesprächsinhalte hattest du ja beim ersten Mal nicht beachtet.«
    »Ich habe ein sehr gutes Gedächtnis … « begann Meg, unterbrach sich aber selbst. »Also gut, zugegeben, allein hätte ich es nicht geschafft. Wahrscheinlich habe ich damals alles nur vage im Hintergrund wahrgenommen. Aber wie hast du es jetzt aus mir herausgekriegt?«
    Proginoskes blinzelte ihr aus zwei dicht umrandeten Eulenaugen zu. »Du lernst allmählich zu kythen.«
    »Was lerne ich?«
    »Kythen. So verständigen sich Cherubim untereinander. Es ist ein Sprechen ohne Worte. Auf vergleichbare Weise existiere ich, selbst wenn ich nicht eigens Fleisch und Blut annehme.«
    »Aber ich könnte weder ohne Fleisch und Blut noch ohne Worte existieren.«
    »Weiß ich doch, Meg«, sagte er geduldig. »Deshalb werde ich deinetwegen die Dinge auch weiterhin beim Namen nennen. Aber es wird gut sein, wenn du nicht vergißt, daß Cherubim wortlos miteinander kythen. Übrigens zeigst du ein für menschliche Wesen bemerkenswertes Talent dafür.«
    Das Kompliment ließ sie erröten, um so mehr, als sie ahnte, daß Cherubim im allgemeinen nicht zu Schmeicheleien neigten. »Progo«, sagte sie, »ich wüßte gern, welche Gleichung mein Vater damals auf das Tischtuch gekritzelt hat. Da ich sie gesehen habe, müßte sie doch irgendwo in meinem Gedächtnis gespeichert sein. Kannst du sie herausholen?«
    »Denk nach!« forderte Proginoskes sie auf. »Ich werde dir dabei helfen.«
    »Mutter hat das Tischtuch längst in die Wäsche gegeben.«
    »Aber du erinnerst dich, daß die Gleichung einige griechische Buchstaben enthielt.«
    »Ja … «
    »Wollen wir sie gemeinsam finden?«
    Sie schloß die Augen.
    »So ist’s recht. Und jetzt entspanne dich. Vielleicht können wir so am besten miteinander kythen. – Nicht nachgrübeln! Laß mich in dich hineindenken.«
    Vor ihrem geistigen Auge entstand mit einemmal ein Bild. Meg meinte, drei griechische Symbole zu erkennen, die sich deutlich von den Zahlen abhoben, die ihr Vater flüchtig aneinanderreihte. Sie dachte sie an Proginoskes weiter.
    »Epsilon, Chi und Theta«, erläuterte der Cherubim. »Das ergibt: ›E-ch-th‹.«
    »Echthroi! – Aber wie hat Vater das nur … ?«
    »Denke an das Gespräch, das wir vorhin gemeinsam erinnerten, Meg. Deine Eltern wissen, daß das Böse in der Welt ist.«
    »Na schön. Und wenn auch. Das weiß sogar ich.« Meg war beinahe gekränkt. »Ehe Charles Wallace in die Schule kam, dachte ich, wir könnten es einfach ignorieren. So wie ein Vogel Strauß, der den Kopf in den Sand steckt.«
    Der Cherubim zog seine Flügel ein und gab Meg frei, setzte sie ungeschützt der Kälte und Fremdheit des Berggipfels aus. »Mach die Augen auf und betrachte den Riß im Raum.«
    »Das möchte ich lieber nicht.«
    »Du mußt es tun. Ich halte alle Augen offen, und du hast bloß zwei.«
    Meg gehorchte. Der schmale Strich quer über das Firmament war nach wie vor zu sehen. Sie fragte sich, was diese Erscheinung mit Charles Wallace und seiner krankhaften Blässe zu tun hatte – und mit seiner Mitochondritis oder was immer es war, worunter er litt. »Progo, wie bringen die Echthroi das nur zuwege?«
    Wie Charles Wallace verstand er es, ihre Angst zu erfühlen. »Das hängt mit dem Entnennen zusammen. Wir sind Namen geber , die Echthroi sind Namen nehmer , Entnenner.«
    »Und Herr Jenkins, Progo? Was hat er damit zu schaffen?«
    Wie eine Welle schlug eine furchtbare Ahnung über ihr zusammen.
    »Eben das müssen wir wahrscheinlich herausfinden, kleine Meg«, sagte Proginoskes wie zur Bestätigung. »Ich nehme an, daß ein Teil unserer ersten Prüfung darin besteht. Laß uns gehen.« Er nahm sie erneut in sich auf; erneut sah sie sich dem mächtigen Katzenauge gegenüber, ging ein in seine große, ovale Pupille, ging hindurch; das Auge schloß sich hinter ihr – und schon standen sie wieder, Seite an Seite, auf der Steinplatte im Garten, beim Ausguck zu den Sternen, und im Osten dämmerte

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