Der Riss im Raum
unbehaglichen Vorahnung, für lange Zeit fortzugehen. Wenn wenigstens Fortinbras sie zum Bus begleiten würde, wie sonst sooft, ehe er kehrt machte, um später auch neben Charles Wallace zum Bus zu trotten. Aber ausgerechnet heute zog er es vor, in der warmen Küche zu bleiben.
»Was wird der Tag uns bringen?« fragte Sandy, als sie sich gemeinsam auf den Weg machten.
»Nichts, wie üblich«, erwiderte Dennys und zuckte mit den Schultern. »Laufen wir um die Wette zur Bushaltestelle?«
Die erste Prüfung
M eg und der Cherubim erreichten unbeanstandet den verlassenen Schulhof.
»Wir müssen etwas warten«, sagte Meg. »Kein Problem für dich, du bist ja unsichtbar. Aber ich brauche ein Versteck.« Da sie Proginoskes nicht sehen konnte, richtete sie ihre Worte an den fahlen Schimmer in der Luft, der seine Anwesenheit verriet.
»Schon zu spät!« sagte der Cherubim. Meg fuhr herum. Herr Jenkins verließ soeben den Parkplatz und kam auf sie zu.
Herr Jenkins. Der übliche, sattsam bekannte Alltags-Jenkins. Keine Schlange zischte oder klickerte ihm entgegen; ungehindert ging er über den Schulhof. Er sah nicht anders aus als sonst; er trug, wie immer, einen dunklen Büroanzug; auf den Schultern glänzten kleine, fettige Pünktchen: Sooft Herr Jenkins seine Jacke auch abbürstete, die Schuppen blieben. Sein angegrautes Haar war kurz geschnitten; seine angegrauten Augen verschwammen hinter den dicken Brillengläsern. Er war weder klein noch groß, weder dünn noch dick; und wie immer, wenn Meg ihm gegenüberstand, hatte sie Blei in den Beinen und wußte nicht, wo sie ihre Hände verstecken sollte.
»Margaret! Du schon wieder? Was hast du hier zu suchen?« Er hatte diesmal allerdings guten Grund, verärgert zu sein.
Meg wußte nichts zu erwidern. Sie spürte Proginoskes an ihrer Seite, spürte seine Gedanken in ihrem Bewußtsein; aber auch von ihm kam keine Hilfe.
»Mein liebes Kind«, sagte Herr Jenkins plötzlich mit ungewohnter Anteilnahme. »Solltest du neuerlich deines jüngeren Bruders wegen gekommen sein, kann ich dir gleich mitteilen, daß wir uns seiner nunmehr besonders annehmen. Meine pädagogischen Grundsätze gestatten nicht, daß ein Kind von seinen Mitschülern diskriminiert wird. Die Untersuchungen anläßlich seines Schuleintritts haben gezeigt, daß Charles Wallace so außerordentlich begabt ist, daß auch außerordentliche Maßnahmen gerechtfertigt scheinen. Nach mehrfacher Konsultation mit der Schulbehörde erwägen wir nunmehr, ihm einen Privatlehrer zur Verfügung zu stellen.«
Meg starrte Herrn Jenkins entgeistert an. Das klang zu schön, um wahr zu sein.
Und dennoch hatte Louise sie gewarnt? Wovor?
Auch der Cherubim war verunsichert. Sie spürte, wie er in ihren Gedanken rumorte. Wollte er herausfinden, wie sie auf diesen unerwartet zuvorkommenden Jenkins reagierte?
»Nichts da!« sagte Herr Jenkins zu Herrn Jenkins. »Für einen einzelnen Schüler gibt es keine Ausnahmen. Charles Wallace Murry muß eben lernen, selbst mit seiner Situation fertig zu werden.«
Ein zweiter Herr Jenkins stand neben Herrn Jenkins.
Unmöglich! Das war so unmöglich, wie – wie – Aber es stimmte: Seite an Seite standen mit saurem Gesicht zwei Jenkinse vor ihr und glichen einander aufs Haar.
Proginoskes schimmerte, materialisierte sich jedoch nicht. Meg zog sich in diesen Schimmer zurück und fühlte, daß der Cherubim seine unsichtbaren Flügel öffnete, um ihr Schutz zu bieten. Sie fühlte auch seine Angst, sein heftiges Herzklopfen, es dröhnte geradezu in ihren Ohren.
»Wir sind Namengeber«, hörte sie den rasenden Herzschlag pochen. »Wir sind Namengeber. Wie sollen wir die beiden benennen?«
»Jenkins.«
»Nein. Nein! Das ist die Prüfung, Meg! Das ist sie! Einer der beiden ist ein Echthros. Wir müssen herausfinden, welcher von ihnen der wahre Herr Jenkins ist.«
Meg musterte die beiden Männer, die einander haßerfüllt anstarrten. »Progo, du kannst dich in mich einfühlen. Kannst du auch in sie schlüpfen? Kannst du sie auskythen?«
»Dazu müßte ich erst wissen, wer sie sind. Aber nur du kennst den Prototyp.«
»Den was?«
»Das Original. Den einzigen Herrn Jenkins, der wirklich Herr Jenkins ist. – Oh, Meg! Schau!«
Plötzlich stand neben den beiden Jenkinsen ein dritter. Er hob die Hand zum Gruß, aber die Geste war nicht für Meg bestimmt, sondern für seine Ebenbilder. »Laßt das arme Mädchen ein paar Minuten allein!« befahl er.
Die drei Männer nahmen Haltung an, steif, wie
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