Der Riss
die Erinnerungen in ihrem Kopf“, sagte Jessica. „All die Sachen, die Gedankenleser aus den alten Zeiten weitergegeben haben.“
Dess schien ein wenig zu zittern, und Jessica verfluchte sich selbst, weil sie das Thema Gedankenleser und Erinnerungen angeschnitten hatte. Madeleine hatte in Dess’ Gedanken ebenfalls herumgepfuscht, als sie versucht hatte, ihre Existenz vor den Darklingen geheim zu halten.
Nach einer unangenehmen Pause antwortete Dess: „Etwas derartig Großes käme in der Lehre vor. Sie würden sich doch nicht nur auf die Erinnerung verlassen, oder?“ Sie zuckte mit den Schultern. „Aber sie hat vielleicht heute Morgen ein paar Informationen von den Darklingen aufgeschnappt. Ich muss sie unbedingt fragen, ob diese blaue Zeit eine komische Form hatte.“
„Eine komische Form?“
Dess’ Augen fingen an zu leuchten. „Ja, ob sie sich beispielsweise über ganz Bixby erstreckt hat. Oder kleiner war als die normale Midnight. Sich … auf verschiedene Stellen konzentriert hat.“
„Warum sollte das so sein?“
Dess zuckte mit den Schultern. „So ist die blaue Zeit eben: Sie hat eine Form.“
Nicht zum ersten Mal versuchte Jessica, sich mit dem Konzept vertraut zu machen. In letzter Zeit redete Dess über die Stunde um Mitternacht, als ob es sich um einen Ort und nicht um Zeit handeln würde. Sie spielte ständig mit Karten herum, und auch jetzt, während sie hier saßen, fummelte sie an ihrem elektronischen Gerät herum, das Koordinaten ausspuckte.
Jessica fand es absurd, dass die blaue Zeit nur bis zu einer bestimmten Stelle gehen und dann einfach aufhören sollte. So hatten sich die Leute in früheren Zeiten das Ende der Welt vorgestellt, als noch niemand wusste, dass die Erde rund ist.
„Dann erklär mir mal, Dess“, fragte Jessica, „was passieren würde, wenn man bis zur Grenze von Bixby und dann nur noch ein kleines bisschen weiter laufen würde?“
„Du meinst, wenn man die Grenze der Midnight überschreiten würde? Würde man nicht … oder besser: Man könnte es nicht. Da draußen steht die Zeit still. Aus deiner Perspektive wäre Midnight zu Ende, wenn du diesen Schritt wagst. Aber ein anderer Midnighter würde sehen, wenn er dich dabei beobachtet, wie du für den Rest der Stunde erstarrst, einfach außer Reichweite.“
Jessica brummte kurz der Schädel, als sie sich das vorzustellen versuchte. „Dann ist Midnight also wie eine Blase um uns herum?“
„Meinst du eine Sphäre? Na ja, sie ist uneben und wackelig, aber ungefähr so.“
„Nehmen wir mal an, du wärst genau auf der Grenze, wenn Midnight eintrifft. Würde sich dann die Hälfte von dir weiterbewegen, und die andere Hälfte erstarren?“
„Und würdest dann in zwei Teile gespalten?“, ergänzte Jonathan. „Wie die Typen in den Samurai-Filmen?“
„Ah, ich glaube, ich weiß es nicht.“ Dess lachte. „Warum versucht ihr’s nicht und sagt mir dann Bescheid?“
„Da kommen sie“, sagte Jonathan.
Rex und Melissa bahnten sich in aller Ruhe einen Weg durch die Meute. Sie berührten sich leicht an den Fingerspitzen, ihre Gesichter sahen entspannt aus. Seit Kurzem schienen Menschenmassen Melissa nichts mehr auszumachen. Sie ignorierte die Blicke von ein paar Fünftklässlern, die entsetzt ihr zerschnittenes Gesicht anstarrten, und glitt erhaben wie ein Filmstar auf dem roten Teppich an ihnen vorbei.
Dess seufzte. „Ich kann verstehen, dass du sauer bist, Jess.
Wo du den Nachmittag nicht bei gammeligem Tee mit zwei Gedankenlesern verbringen darfst.“ Sie erhob sich auf die Füße, ihr langer Rock raschelte. „Bis dann.“
„Ist doch wahr“, sagte Jonathan. „Du kannst von Glück sagen, dass dir das erspart bleibt.“ Er drückte Jessicas Hand und stand auf.
„Echt, so ein Glück“, sagte Jessica. „Könnte ich bloß für immer Hausarrest haben.“
Sie sah den vieren nach, die sich entfernten, kaute auf ihrer Lippe herum und verfluchte die Kalenderlogik ihrer Eltern.
Wussten die nicht, dass sie zurzeit Wichtigeres zu tun hatte, als mit Hausarrest herumzuhocken?
Zum allerersten Mal kam ihr Dad zu spät.
Er hatte sie jeden Tag ihres Hausarrests zuverlässig abgeholt, da eine Fahrt mit dem Schulbus in seinen Augen unweigerlich dazu führen musste, dass sie ihre kriminellen Gewohnheiten wieder aufnehmen würde. Aber nirgendwo im Kriechverkehr der Eltern, die ihre Kids abholten, war Don Days Wagen zu entdecken. Vielleicht hatte ihn die Debatte über das Ende ihres Hausarrests verunsichert.
Bei
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