Der Riss
der Diskussion am heutigen Frühstückstisch hatte Jessica das Mondmodell angewendet: Ein Monat hatte achtundzwanzig Tage, was bedeutete, dass gestern Abend Schluss war.
Ihre Eltern hatten sich aber unerbittlich an den Kalendermo-nat gehalten, und während er die Monate an den Fingerknöcheln mitzählte, hatte ihr Vater verkündet: „… Juli, August, September. Der hat dreißig Tage.“
Weshalb es natürlich immer noch nicht fair war, dass sie heute Abend Hausarrest hatte. Jessica war an einem Samstag aufgegriffen und in die Obhut der Eltern zurückgeführt (also nicht verhaftet) worden. Dreißig Tage wären an einem Montagabend zu Ende, wie jeder halbwegs gesunde Mensch wusste. Ihre Eltern hatten sich aber darauf berufen, dass sie Sonntagmorgens zurückgebracht worden war, insofern hatte ihr Hausarrest eigentlich erst Sonntagabend angefangen, weshalb sie ihre Strafe auch erst Dienstagabend abgesessen hatte.
Jessica hatte weiterdiskutiert, bis ihr Vater ärgerlich geworden war und angeführt hatte, dass die meisten Monate einunddreißig Tage hatten, weshalb er ihren Hausarrest bedenkenlos bis Mittwoch verlängern konnte. Dabei hatte sogar Mom die Augen verdreht, aber Jessica hatte zugeben müssen, dass sie geschlagen war.
Sie sah auf ihre Uhr, die sie auf Bixbyzeit zurückgedreht hatte – während der Finsternis hatte sie zwanzig Minuten dazugewonnen. Ihr Bus würde bald losfahren. Wenn sie einsteigen und ihr Vater sie später abholen würde, wäre er stocksauer und würde sie wieder einsperren. Vielleicht war aber genau das sein Trick: Wenn sie ihren Bus verpassen würde, wäre sie gezwungen, zu Fuß nach Hause zu gehen, und er könnte sie wieder einsperren, weil sie zu spät kam.
Es sei denn, sie hatte etwas vergessen. Jessica wühlte angestrengt in ihrem Gedächtnis nach irgendeiner Planänderung.
Seit den seltsamen Ereignissen von heute Morgen war ihr Gedächtnis nicht mehr ganz zuverlässig. Den ganzen Tag hatte sie darauf gewartet, dass die Zeit wieder anhalten und alle um sie herum von dem blauen Licht erfasst werden würden. Jedes Mal, wenn der Lärm in der Mittagspause abflaute, war sie zusammengezuckt, weil sie sich fragte, ob die Welt der Bewegung mit ihrem Sonnenlicht und anderen menschlichen Wesen für immer verschwinden würde.
Endlich entdeckte Jessica das bekannte Auto und Beths Gesicht auf dem Beifahrersitz neben ihrem Vater, und plötzlich fiel ihr ein, weshalb er zu spät kam. Beth hatte verlangt, von der Junior Highschool am anderen Ende der Stadt abgeholt zu werden, damit sie nicht in ihrer peinlichen neuen Schulgardeuniform nach Hause laufen musste.
„Stimmt ja“, sagte Jess und musste lächeln. Ihre kleine Schwester war wieder eine Majorette.
Sie rannte zwischen den vielen Autos hindurch, riss die Tür auf und ließ sich auf den Rücksitz fallen.
Beth wirbelte herum. „Wehe, du sagst was.“
Jessica grinste sie an. „Gerade wollte ich sagen, dass du in Purpur mit Gold hinreißend aussiehst.“
„Dad! Sie macht sich über mich lustig!“ Beth wandte sich ihrem Vater zu. „Du hast gesagt, sie darf sich nicht über mich lustig machen!“
„Jess …“
„Ich habe bloß hinreißend gesagt. Hinreißend ist nichts Böses. Dad, erklär Beth, wie gern die armen Kinder in Bangladesch so ein hinreißendes Kostüm anziehen würden.“
„Hör auf, darüber zu reden, Jess!“, schrie Beth.
„Mädels …“ Don Day hörte sich bisher nur leicht bedrohlich an, weil er konzentriert nach einer Chance Ausschau hielt, den Wagen aus dem Verkehrschaos hinauszulenken.
„Kannst du ihr nicht einfach wieder Stubenarrest verpassen?“, rief Beth.
„Beth! Du bist total uncool!“
„Würdet ihr jetzt bitte beide still sein?“, flehte ihr Vater.
Während er den Wagen in der Parklücke zurücksetzte, versuchte er, Jessica mit einem festen Blick Angst einzujagen, dann legte er den Vorwärtsgang ein und starrte Beth eine bedeutsame Sekunde an, bevor er beschleunigte und auf die Fahrbahn einbog.
Jessica lehnte sich wenig erschüttert zurück. „Eigentlich habe ich auch jetzt keinen richtigen Hausarrest.“
„Doch, hast du wohl“, sagte Beth.
„Also gut, dann eben doch.“ Jessica wartete einen Moment, dann spielte sie ihren letzten Trumpf aus. „Dad, erinnerst du dich, dass mir ein Tag pro Woche ohne Hausarrest zusteht?
Kann ich den beispielsweise heute nehmen?“ Sie richtete sich auf und lächelte. Ihre Eltern hatten ihr diese vorübergehende Begnadigung gewährt, wenige Tage
Weitere Kostenlose Bücher