Der Ritter von Rosecliff
überquerten, kam sie aus dem Staunen nicht heraus. Das zweistöckige Hauptgebäude mit der großen Halle. Die Stallungen und Kasernen. Die Küche, an die sie sich vage erinnerte, denn sie war noch vor den Mauern erbaut worden. Als sie die breiten Steinstufen zur Haupthalle hinaufgingen, sah Rhonwen in einiger Entfernung einen Stallknecht der ein großes Pferd striegelte. Ihr Herzschlag stockte: es war Jaspers Hengst den sie zu stehlen versucht hatte!
Sie bekreuzigte sich hastig und sprach ein stummes Gebet. Bitte, lieber Gott, lass mich ihm nicht begegnen! Hoffentlich lag er wirklich krank im Bett, wie Josselyn gesagt hatte, denn sie wusste beim besten Willen nicht, was sie tun würde, wenn Jasper plötzlich vor ihr stünde.
Kapitel 6
Das Pochen kam aus seinem eigenen Kopf, zuerst zögernd, dann immer lauter. Jasper presste beide Hände an die Schläfen. Wenn dieses Klopfen nicht bald aufhörte, würde sein Schädel bersten.
Aber es hörte nicht auf. Er schnitt eine Grimasse und begriff allmählich, dass der Lärm doch nicht in seinem schmerzenden Kopf erzeugt wurde. Irgendein rücksichtsloser Mensch hämmerte gegen die Tür.
»Onkel Jasper? Onkel Jasper, Mutter sagt dass du nicht den ganzen Tag verschlafen sollst. Wir haben einen Gast. Onkel Jasper?«
»Ja, Gavin, ich hab's gehört.« Stöhnend setzte Jasper sich auf und öffnete vorsichtig die Augen. Er musste letzte Nacht wirklich eine Unmenge getrunken haben, sonst würde er sich nicht immer noch so miserabel fühlen. Wenn das Rand zu Ohren kam ...
»Onkel Jasper?«, rief Gavin wieder.
»Ja, ja, ich stehe auf und komme nach unten.« Jasper setzte sich auf die Bettkante, die Ellbogen auf die Knie gestützt das Gesicht in den Händen vergraben. Erst jetzt kam ihm richtig zu Bewusstsein, was Gavin gesagt hatte, und er hob mühsam den Kopf. »Ein Gast? Doch nicht etwa ein Kurier von Rand?«
»Nein, es ist nur eine Frau. Eine Freundin von Mutter.«
Jasper setzte sich aufrecht hin, und sein Puls begann schneller zu schlagen. »Eine Frau? Wer ist sie? Wie heißt sie?«
»Jemand, den Mutter von früher her kennt, glaube ich. Sie heißt Rhonwen.«
Es war erstaunlich, wie schnell sein Körper plötzlich die Exzesse der letzten Nacht vergaß. Er sprang auf, mit klarem Kopf und ohne Übelkeit. Rhonwen war hier auf Rosecliffe! Rhonwen, die auf ihn geschossen und sein Pferd gestohlen hatte! Die schöne Rhonwen, die ihn hasste, aber seine Küsse leidenschaftlich erwidert hatte! Rhonwen, die schuld daran war, dass er sich letzte Nacht so blamiert hatte!
Warum war sie hier, nachdem sie Josselyn und Rosecliffe seit Jahren gemieden hatte? Es konnte nur eines bedeuten: sie wollte ihn sehen. Das war Balsam für seinen verletzten Stolz. Rhonwen hatte solche Sehnsucht nach ihm, dass sie sogar nach Rosecliffe gekommen war!
Er grinste seinem Spiegelbild zufrieden zu, wusch sich den Schlaf aus den Augen und spülte seinen Mund aus. Er zog ein frisches Hemd und eine Lederweste an, kämmte seine wirren Haare, schnallte seinen besten Gürtel um, rückte die Dolchscheide zurecht, zog seine Stiefel an und eilte über den Hof.
Es war wirklich Rhonwen, sie saß mit Josselyn in der großen Halle. Durch die hohen Fenster auf der Ost- und Südseite fiel Sonnenlicht auf die beiden Frauen. Josselyn schaute lächelnd auf, und Rhonwen drehte sich um.
Ihr erschrockenes Gesicht zerstörte jäh Jaspers Träume, dass sie gekommen war, um ihn zu sehen. Heiße Röte schoss ihr in die Wangen, sie warf Josselyn einen vorwurfsvollen Blick zu und umklammerte die Stuhllehnen. Aber sie versuchte wenigstens nicht zu fliehen.
Damit versuchte er sich zu trösten, während er die Halle betrat. Josselyn stand auf, und ihr zufriedenes Lächeln verriet ihm, dass sie diese Sache irgendwie eingefädelt hatte.
»Ah, ich freue mich, dass du kommst Jasper, denn ich möchte dich mit einer Freundin bekannt machen, auf deren Besuch ich sehr lange warten musste.« Sie deutete auf Rhonwen, die ebenfalls aufgestanden war. »Das ist Rhonwen«, stellte sie vor, so als hätte Jasper ihr nichts von seiner Begegnung mit der jungen Waliserin erzählt. Er war bereit auf dieses undurchsichtige Spiel einzugehen - jedenfalls im Augenblick.
»Du wirst dich vielleicht erinnern, dass Rhonwen meine Freundin war, bevor ich Rand geheiratet habe. Rhonwen, das ist Jasper Fitz Hugh, dem du vor vielen Jahren die Hand gerettet hast.«
Jasper und Rhonwen starrten einander an. Herrgott, die Kleine kam ihm jetzt noch hübscher als
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