Der Ritter von Rosecliff
dass kein Mensch in der Nähe war, schlich sie zur Küche. Jasper war nicht mehr dazu gekommen, das hintere Burgtor abzuschließen. Es würde nur mit der Stange verbarrikadiert sein, die ausreichenden Schutz gegen Eindringlinge bot aber niemanden daran hindern konnte, aus der Burg zu fliehen.
Sie tastete sich durch die Küche und den höhlenartigen Gang, der zum Tor führte. Das laute Quietschen der Metallstange ließ sie befürchten, dass gleich ein Wachposten angerannt kommen würde. Sie lauschte mit angehaltenem Atem, hörte aber nur das Pochen ihres eigenen Herzens, und wagte es nach einigen Minuten, die Tür zu öffnen und ins Freie zu schlüpfen. Draußen presste sie sich an die Mauer und wartete wieder ab, ob ihre Flucht bemerkt worden war.
Alles blieb still.
Ein steiler Felspfad führte von hier zur Küste hinab. Bevor die Engländer nach Rosecliffe gekommen waren, hatte sie oft an dieser Stelle gesessen und auf das Meer geschaut das tief unter ihr rauschte. jetzt in der Nacht, war es kaum zu sehen, aber sie hörte das Tosen der Brandung. Ein kalter Wind fegte um die Mauern und erinnerte daran, dass der Winter seinen Kampf gegen den Frühling noch nicht aufgegeben hatte. Rhonwen fror, aber sie wusste, dass sie auch gefroren hätte, wenn es eine milde Sommernacht gewesen wäre, denn diese eisige Kälte ging von ihrem Herzen aus. Nie wieder würde sie die verzehrende Glut der Leidenschaft erleben, denn sie hatte den Mann verlassen, der dieses Feuer in ihr entfacht hatte. Von nun an würde sie immer frieren - aber sie würde nie vergessen, wie herrlich die Hitze gewesen war!
Vorsichtig tastete sie sich den Pfad hinab, denn jeder falsche Schritt konnte tödliche Folgen haben. Wenn sie ausrutschte, würde ihr Körper auf den Felsen in der Tiefe zerschmettern. Sie hielt sich an Sträuchern fest während sie langsam einen Fuß vor den anderen setzte. Allmählich wurde das Tosen der Wellen immer lauter, und der Wind roch nach Salz, Fisch und Austernschalen. Im Westen hing eine schmale Mondsichel am Himmel, während der östliche Horizont sich schon rötlich färbte. Sie musste sich beeilen, denn bald würde die Sonne aufgehen. Trotzdem blieb sie kurz stehen, um Luft zu schöpfen und einen Blick zurück zu werfen.
Hoch über ihr ragte die Festung empor, in der Dunkelheit noch imposanter und bedrohlicher als bei hellem Tageslicht. Glaubte Rhys wirklich, diese Burg stürmen zu können? Rhonwen schüttelte den Kopf. Warum sah er nicht ein, wie hoffnungslos ein solches Vorhaben war?
Deshalb hat er dich ja gebeten, ihm zu helfen!
Er hatte sie um Hilfe gebeten, und sie ließ ihn im Stich- Ein weiterer Name auf der langen Liste von Menschen, die sie betrogen und hintergangen hatte: Rhys ... Jasper ... Josselyn ... Isolde, Gwen und Gavin ... Nesta ... Sie wischte sich eine Träne aus dem Auge. Ihr blieb ja keine andere Wahl als das Vertrauen anderer zu missbrauchen, versuchte sie sich zu rechtfertigen. Sie musste fliehen, koste es, was es wolle. Seufzend setzte sie ihren Weg fort und erreichte schließlich die Küste. Drei Boote lagen auf den Klippen. Wurden sie bewacht? Sie sah keinen Posten -vielleicht war er eingeschlafen.
Ihr Ziel war eine kleine Bucht westlich von hier, doch der Weg dorthin war felsig, und sie kam nur sehr langsam voran, suchte Halt an Büschen und Bäumen, zerkratzte sich dabei die Hände und musste zu allem Übel teilweise durch die Wellen waten, die sich am Ufer brachen. Das Wasser war eisig, und sie hatte bald taube Füße und Beine. Als sie die Bucht endlich erreichte, sank sie ins Gras, vor Kälte und Erschöpfung zitternd. Allzu lange durfte sie hier nicht verweilen, aber sie brauchte unbedingt eine kleine Verschnaufpause. Diese Zeit konnte sie nutzen, um ihre Lage zu überdenken. Sie hatte nichts zu essen, und sie musste irgendein Versteck finden, wo sie ihre nassen Kleidungsstücke trocknen konnte. Müde schleppte sie sich landeinwärts, und bei Sonnenaufgang entdeckte sie eine kleine Höhle neben einem Bach, der in den Fluss Geffen mündete. Sie polsterte den Höhlenboden mit Laub und wollte gerade ihre nassen Sachen ausziehen, als jemand ihren Namen rief.
»Rhonwen!«
Ihr Herzschlag stockte, und sie bewaffnete sich hastig mit einem Stein. Doch nicht Jasper oder irgendeiner seiner Soldaten trat zwischen den Bäumen hervor, sondern Newlin. Sein mit Bändern geschmückter Umhang flatterte um die winzige Gestalt. Lächelnd kam er auf sie zu und streckte ihr einen kleinen Stoffsack
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