Der Rosenmord
vor und einer hinter dem Mühlteich.
Diese beiden Pfade führten zu je drei kleinen Häusern an beiden Ufern des Teichs hinunter. Der dritte lief links zum Flußufer hinab, wo die Gaye mit den Hauptgärten der Abtei lag.
Auf der Hauptstraße gab es kaum Deckung, jede Gewalttat wäre dort sofort aufgefallen. Die Pfade, die zu den Abteihäusern führten, hatten aus der Sicht eines Entführers den Nachteil, daß sie aus den Fenstern aller sechs Häuser zu überblicken waren, und natürlich waren jetzt zur Sommerzeit die Läden offen. Die alte Frau in einer Hütte war stocktaub und hätte auch die lautesten Schreie nicht hören können, aber ältere Leute schlafen im allgemeinen nur leicht und wachen oft auf, und da sie nicht mehr ihren früheren Geschäften nachgehen können, entwickeln sie oft eine große Neugierde, um die langen Tage auszufüllen. Es hätte schon einen sehr kühnen oder verzweifelten Mann gebraucht, um direkt unter ihren Fenstern eine Gewalttat zu begehen.
Im Süden standen keine Bäume nahe an der Straße, es gab nur ein paar niedrige Sträucher am Teich und die Böschung am Fluß. Nur an der Nordseite, vom Brückenkopf, wo sich der Pfad zur Gaye hinunterwand, bis zum Torhaus der Abtei, wo die Häuser der Vorstadt begannen, standen ausgewachsene Bäume.
Es wäre zu früher Stunde, wenn nur wenige Leute unterwegs waren, sicher nicht schwer gewesen, einen Augenblick abzupassen, in dem die Straße leer war, um der Frau einen Mantel über den Kopf zu werfen und sie in den Hain oder nach unten ins Gebüsch zu zerren. Aber in diesem Fall hätte der Betreffende, ob Mann oder Frau, jemand sein müssen, der ihr bekannt war – jemand, der einen triftigen Grund hatte, einige Minuten mit ihr zu reden. Das paßte gut zu der Andeutung, die Miles gemacht hatte, denn selbst ein unwillkommener Freier, der zugleich ja ein Nachbar in der Stadt war, mußte bei einer zufälligen Begegnung auf der Straße nachsichtig und höflich behandelt werden. So verlangte es das Leben in einer umfriedeten, engen Stadt.
Natürlich mochte es auch andere Gründe geben, die Frau von Heim und Familie zu entführen, doch mußten sie auf jeden Fall etwas mit dem Vertrag und dem Rosenstrauch zu tun haben. Aber so angestrengt er nachdachte, Cadfael wollte keine andere Erklärung einfallen. Eine reiche Händlerswitwe in einer Stadt, wo jeder jeden kannte, wurde unweigerlich von Freiern belagert, die ihr Vermögen vergrößern wollten. Die einzig sichere Verteidigung war die, über die Judith nachgedacht hatte: der Rückzug ins Kloster. Oder natürlich die Heirat mit dem Bewerber, der ihr am besten gefiel oder sie am wenigsten abstieß. Aber gerade das hatte sie ja ausgeschlossen. Es mochte sein, daß derjenige, der sich für den aussichtsreichsten Bewerber hielt, alles auf eine Karte gesetzt hatte und hoffte, das Herz der Dame erweichen zu können, wenn er sie ein paar Tage in einem Versteck umwerben konnte. Wenn er sie außerdem bis nach dem zweiundzwanzigsten Juni versteckt hielt, konnte er das Abkommen mit der Abtei genauso sicher platzen lassen wie durch die Zerstörung des Rosenstrauches und aller seiner Blüten. Egal, wie viele Rosen jetzt überlebten, wenn Judith nicht rechtzeitig gefunden wurde, konnte sie am festgesetzten Tag die Rose nicht bekommen. Vorausgesetzt, ihr Häscher behielt am Ende die Oberhand und konnte sie zur Heirat bewegen, dann würde ihr Besitz ihm gehören, und er konnte sie daran hindern, den gebrochenen Vertrag zu erneuern oder zu verändern. Und damit hätte er dann alles und nicht nur die Hälfte gewonnen. Ja, je länger Cadfael die Angelegenheit betrachtete, desto einleuchtender erschien ihm die Vermutung, die Miles geäußert hatte.
Unentwegt an Judith denkend ging er in seine Zelle. Für ihr Wohlergehen war auch die Abtei verantwortlich, die Sache durfte nicht allein den weltlichen Mächten überlassen werden.
Morgen, dachte er, während er im düsteren Dormitorium wach lag und dem grollend schnarchenden Richard lauschte, morgen werde ich dieses Wegstück abgehen und sehen, was sich finden läßt. Wer weiß, vielleicht blieb dort etwas zurück, das mehr sagt als der Abdruck eines abgenutzten Stiefels.
Er fragte nicht eigens um Erlaubnis, denn hatte nicht der Abt bereits zu Hugh gesagt, daß dieser sich an Männern, Pferden und Geräten nehmen solle, was immer er brauchte? Von hier aus war es nur noch ein kleiner Schritt bis zu der Unterstellung, daß Hugh ihn gewiß ausdrücklich um Hilfe gebeten
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