Der Rosenmord
hätte, wenn er gewußt hätte, worüber sein Freund nachdachte. Solche kleine Übungen in moralischer Beweglichkeit fielen ihm immer noch sehr leicht, wenn er sie für nötig hielt.
Er machte sich nach dem Kapitel auf den Weg und marschierte in die Vorstadt, die von den langen, schrägen Strahlen der aufgehenden Sonne in strahlendes Licht und tiefe Schatten zerteilt wurde. Im Schatten lag noch Tau auf dem Gras, ein stetiger, schwacher Wind zauste die Blätter und ließ sie glitzern. In der Vorstadt, der er jetzt den Rücken kehrte, war schon viel Betrieb. Alle Geschäfte und alle Haustüren waren an diesem Sommermorgen geöffnet, und überall waren Hausfrauen, Kinder, Hunde, Fuhrleute und fliegende Händler unterwegs oder hielten in kleinen Gruppen ein Schwätzchen. In diesem verspätet, aber sehr lieblich angebrochenen Sommer wollte niemand zwischen seinen vier Wänden bleiben. Alles war draußen in der Sonne unterwegs. An der Westseite der Kirche, dem Torhaus gegenüber, fiel der Schatten des Kirchturms wie eine Messerklinge, doch längs der Abteimauern waren die Schatten schmal, gleichsam an die Wand geschmiegt.
Cadfael ging langsam und grüßte alle Bekannten, die er unterwegs traf, ließ sich jedoch nicht aufhalten. Dieses Stück der Straße konnte sie nicht mehr erreicht haben, als sie unterwegs war, um ihre fromme Absicht zu verwirklichen. Zu seiner Linken stand die hohe Steinmauer, die den großen Hof, die Krankenstation und die Schule umfaßte, um dann im rechten Winkel abzubiegen und parallel zum ersten Pfad zu den drei kleinen Abteihäusern und zur Mühle hinunterzulaufen.
Dann kam der breite Mühlteich, der von einer niedrigen Hecke umgeben war. Cadfael wollte und konnte nicht glauben, daß Judith Perle in den Teich oder in den Fluß gegangen war. Wer immer sie entführt hatte – falls es wirklich eine Entführung war –, brauchte sie lebendig, unverletzt und reif für die Eroberung.
Hugh hatte keine Wahl, als aufs Geratewohl sein Netz weit auszuwerfen und jede Möglichkeit zu berücksichtigen. Cadfael dagegen zog es vor, Schritt für Schritt vorzugehen. Die Soldaten des Königs forschten jetzt in allen Straßen, Gassen und Häusern von Shrewsbury nach einer lebendigen, gefangenen Frau. Hugh hatte sicher auch Madog vom Totenboot um Hilfe gebeten, denn Madog wußte am besten, wo eine Leiche angetrieben werden konnte. Der Schiffer kannte jede Welle des Severn, jeden Streich, den der Fluß nach einem Wetterwechsel spielen konnte, jede Biegung und jede Sandbank, wo die Dinge, die der Fluß fortspülte, wieder angeschwemmt wurden. Wenn der Fluß Judith genommen hatte, dann würde Madog sie finden. Aber Cadfael mochte es nicht glauben.
Was aber, wenn Hugh sie nicht innerhalb der Mauern von Shrewsbury fand? Dann mußte man weiter hinausblicken. Es ist nicht leicht, eine sich sträubende Frau bei Tageslicht weit zu transportieren. War es überhaupt möglich, ohne einen Karren zu benutzen? Ein Reiter, der eine eingewickelte Last mit sich nahm, brauchte ein kräftiges Pferd, um das zusätzliche Gewicht zu tragen, und würde gewiß auffallen. Irgend jemand würde sich später an ihn erinnern oder ihn sogar an Ort und Stelle zu einer Erklärung auffordern, denn die menschliche Neugierde ist ein starker Trieb. Nein, Judith konnte nicht weit entfernt sein.
Cadfael ging am Teich vorbei und erreichte den zweiten Pfad, der zu den anderen drei Häusern führte. Jenseits der schmalen Gärten dieser Häuser war offenes Feld, hinter dem scharf nach links abzweigend eine schmale Hauptstraße am Fluß entlang nach Süden führte. Auf diesem Wege konnte ein Entführer nach etwa einer Meile im Wald verschwinden.
Andererseits gab es am Flußufer keine Deckung, und was dort geschah, konnte man sogar von den Stadtmauern jenseits des Flusses beobachten.
Rechts aber begann hinter den Häusern der dichte Hain, und danach führte ein steiler Pfad durch Büsche und Bäume zum Flußufer und zur weiten, fruchtbaren Gaye hinunter. Vor dieser Stelle wäre Judith auf der offenen Brücke und damit unangreifbar gewesen. Hier also bot sich einem lauernden Entführer auf dem kurzen Weg die einzige Möglichkeit, um zuzuschlagen und sich mit seiner Beute zurückzuziehen. Sie durfte nicht die Abtei erreichen und ihre Absicht ausführen. Eine zweite Gelegenheit würde es nicht geben. Das Haus mit dem Rosenstrauch war ein Besitz, der einige Mühe wert war.
Die Sache schien ihm immer einleuchtender.
Ausgeschlossen vielleicht für einen
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