Der Rosenmord
Es ist nur ein kurzer Gang von der Stadt bis hier zur Abtei! Der Wächter am Stadttor grüßte sie und sah sie über die Brücke gehen, doch dann war er beschäftigt, und er hatte ja auch keinen Grund, ihr nachzusehen. Danach verliert sich ihre Spur.«
»Und sie hatte die Absicht, auf die Rose zu verzichten«, erkundigte sich Hugh gespannt, »und die Bedingung für ihr Geschenk an die Abtei aufzuheben?«
»Das sagt ihr Mädchen, dem Judith es erzählt hat. Sie war ganz außer sich wegen der Ermordung des jungen Bruders«, berichtete Miles. »Sie machte sich Vorwürfe, weil sie glaubte, ihr Wunsch habe den Mord verursacht.«
»Es müßte noch geklärt werden«, warf Abt Radulfus ein, »ob das wirklich zutrifft. Es scheint so, als habe Bruder Eluric die Zerstörung des Rosenstrauches verhindern wollen und sei dabei, vielleicht in Panik, vom Angreifer getötet worden. Ich verstehe nicht, warum irgend jemand den Wunsch haben sollte, den Rosenstrauch zu zerstören. Hätte es nicht diese unerklärliche Tat gegeben, dann hätte es auch keine Störung und keinen Mord gegeben. Wer konnte ein Interesse haben, den Rosenbusch zu zerstören? Welches Motiv konnte der Betreffende gehabt haben?«
»Ah, Ehrwürdiger Vater, da gibt es einige Möglichkeiten!«
Miles wandte sich abrupt zu ihm um. »Es gab einige, die nicht erbaut davon waren, daß meine Cousine einen so wertvollen Besitz fortgab, die Hälfte ihres Vermögens. Wenn der Busch zerstört worden wäre und am Tage von St. Winifreds Grablegung keine Rose hätte übergeben werden können, dann wären die Vertragsbedingungen verletzt worden. Und damit hätte der Vertrag widerrufen werden können.«
»Das hätte geschehen können«, widersprach Hugh scharf, »aber so ist es nicht. Die Frau hätte immer noch die Möglichkeit, sich zu entscheiden, und könnte auf die Rose verzichten. Und wie Ihr wißt, hatte sie genau das auch vor.«
»Sie könnte darauf verzichten«, gab Miles ebenso scharf zurück, »wenn sie anwesend wäre. Aber sie ist nicht da. Vier Tage, bis die Pacht fällig wird, und sie ist verschwunden. Ein Zeitgewinn, ein Zeitgewinn! Derjenige, der den Busch nicht zerstören konnte, hat jetzt meine Cousine entführt. Sie ist nicht da, um etwas zu gewähren oder abzulehnen. Was er auf die eine Weise nicht erreichte, versucht er jetzt auf eine andere.«
Es gab ein kurzes, gespanntes Schweigen. Dann sagte der Abt langsam: »Glaubt Ihr das wirklich? Ihr sprecht mit großer Überzeugung.«
»Das glaube ich, Ehrwürdiger Vater. Ich sehe keine andere Möglichkeit. Gestern kündigte sie ihre Absicht an, auf die Rose zu verzichten. Heute wurde sie daran gehindert. Es gab keine Zeit zu verlieren.«
»Und doch wußtet Ihr selbst nicht, was sie beabsichtigte«, sagte Hugh. »Ihr habt es erst heute erfahren. Wußte noch jemand davon?«
»Ihr Mädchen gibt zu, daß sie es in der Küche weitererzählte.
Wer weiß schon, wie viele es da gehört haben oder wie vielen es weitergesagt wurde? Solche Dinge dringen durch die Schlüssellöcher und alle Ritzen der Fensterläden. Vielleicht hat Judith auch auf der Brücke oder in der Vorstadt einen Bekannten getroffen und ihm gesagt, wohin sie wollte. So leichtfertig und gedankenlos sie auch diese Bedingung in den Vertrag aufnehmen ließ, wenn sie nicht erfüllt wird, ist der Vertrag null und nichtig. Vater, Ihr wißt, daß es wahr ist.«
»Ich weiß es«, räumte Radulfus ein und gelangte schließlich zu der unvermeidlichen Frage: »Wer könnte dann möglicherweise davon profitieren, daß die Übereinkunft, aus welchen Gründen auch immer, gebrochen wird?«
»Ehrwürdiger Vater, meine Cousine ist jung, verwitwet und eine gute Partie, und sie wäre noch reicher, wenn ihr Geschenk an Euch rückgängig gemacht werden könnte. Ein ganzer Schwärm von Freiern aus der Stadt ist ihr seit mehr als einem Jahr auf den Fersen, und sie alle würden natürlich lieber den ganzen Besitz als nur die Hälfte bekommen. Ich führe ihr Geschäft und bin zufrieden mit dem, was ich habe, und mit der Frau, die ich noch vor Jahresende heiraten werde. Auch sie ist eine gute Partie. Selbst wenn wir nicht so eng verwandt wären, ich hätte kein anderes Interesse an Judith als das eines treuen Verwandten und Mitarbeiters. Aber natürlich weiß ich, wie sie von Schmeichlern belagert wird. Nicht daß sie einen von ihnen ermutigen oder ihm Anlaß zu Hoffnung geben würde, aber sie lassen in ihren Bemühungen dennoch nicht nach. Nachdem sie nun drei Jahre
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