Der Rosenmord
solange die Frau in ihrem Gefängnis saß, einfach weil es unnötig war. Niemand konnte einer vermißten Frau eine Rose übergeben. Wenn jemand plante, einen Vertragsbruch zu arrangieren und sich das Haus in der Vorstadt anzueignen, wie inzwischen jedermann glaubte, dann hatte er bereits alles Nötige getan und brauchte kein weiteres Risiko einzugehen.
Niall hatte seiner Schwester über die Angelegenheit sehr wenig und über seine tiefen Gefühle überhaupt nichts erzählt, aber sie schien es instinktiv zu erfassen. Der Klatsch aus Shrewsbury kam hier draußen gemildert und harmlos als eine Art interessante Geschichte an, die mit dem wirklichen Leben kaum etwas zu tun hatte. Die Wirklichkeit bestand hier aus dem Anwesen, aus den Äckern, aus den paar Arbeitern, aus der mit einem Graben geschützten Schonung, aus welcher die Kinder die Ziegen ins Weideland zurückscheuchten, aus den Zugochsen und dem umgebenden Wald. Die beiden kleinen Mädchen, die mit großen Augen den Gesprächen der Erwachsenen lauschten, stellten sich Judith Perle als eine jener verwunschenen Prinzessinnen vor, die in alten Ammenmärchen immer von bösen Zauberern verhext wurden. Cecilys wuschelköpfige braungebrannte Jungen, die in allen Beschäftigungen des Waldlandes so geschickt waren, hatten bisher nur zwei-oder dreimal die Türme der Burg von Shrewsbury aus der Ferne gesehen. Drei Meilen sind keine große Entfernung, aber groß genug, wenn keine Notwendigkeit besteht, sie zu überwinden. John Stury kam etwa zweimal im Jahr zum Einkaufen in die Stadt, ansonsten versorgte sich das kleine Anwesen selbst. Manchmal hatte Niall den Eindruck, daß er seine Tochter zu sich in die Stadt nehmen sollte, wenn er nicht Gefahr laufen wollte, sie ganz zu verlieren.
Zugegebenermaßen an ein glückliches Haus, an ein friedliches, einfaches Leben in Gesellschaft anständiger Menschen, aber trotzdem wäre es für ihn ein schlimmer Verlust gewesen.
Jetzt schlief sie mit den drei anderen Kindern droben im Nest auf dem Speicher. Er hatte sie selbst zu Bett gebracht, als sie müde wurde. Ein schönes Geschöpf war sie mit einem hellen, goldenen Schimmer im duftigen Haar, genau wie die Mutter, und mit einer Haut wie Milch und Honig. Cecilys Kinder hatten das dunkelbraune Haar des Vaters, geschmeidige, schlanke Körper und schwarzen Augen. Sie dagegen war rund, weich und sanft. Fast von Geburt an hatte sie hier bei ihren Vettern gelebt, und es wäre schlimm, sie herauszureißen.
»Du wirst im Dunkeln gehen«, sagte John, indem er von der Türschwelle aus hinauslugte. Aus dem Wald drang in der stillen Sommernacht ein kräftiger, würziger Duft. »Der Mond geht erst in ein paar Stunden auf.«
»Das macht mir nichts aus. Ich kenne den Weg inzwischen gut genug.«
»Ich bringe dich bis zum Weg«, bot Cecily an. »Es ist warm, und ich bin noch nicht müde.«
Schweigend begleitete sie ihn durch das Tor in Johns Palisadenzaun über eine grasbewachsene Lichtung bis zum Waldrand. Dort blieben sie stehen.
»Irgendwann«, sagte sie, als hätte sie seine Gedanken erraten, »wirst du uns die Kleine wieder wegnehmen. Das ist nur recht und billig, wenn wir sie dir auch neiden werden. Und wir sind ja auch nicht so weit entfernt, daß wir sie nicht ab und zu wieder bei uns haben könnten. Besser, du wartest nicht mehr lange damit, Niall. Sie war wie ein Geschenk, und ich habe mich darüber gefreut, aber sie ist dein und Avotas Kind, und in diesem Wissen soll sie auch aufwachsen.«
»Sie ist noch so klein«, wehrte Niall ab. »Ich habe Angst, sie zu verwirren.«
»Sie ist jung, aber sie ist klug. Sie beginnt schon zu fragen, warum du sie immer allein läßt und will wissen, wie du allein zurechtkommst und wer für dich kocht und wäscht. Du könntest sie doch zu Besuch mitnehmen und ihr zeigen, wie du lebst und was du arbeitest. Sie will es wirklich wissen, sie wird es begierig aufnehmen. Und so gern sie auch mit meinen Kindern spielt, sie mag es nicht, dich mit ihnen zu teilen. Eine richtige kleine Frau ist sie geworden«, erklärte Cecily überzeugt. »Aber das Beste, was du überhaupt für sie tun kannst, ist, ihr eine neue Mutter zu geben. Eine Mutter, die sie ganz für sich allein hat ohne andere Kinder, die ihre Rivalen wären. Denn sie ist klug genug, mein Lieber, um genau zu wissen, daß ich nicht ihre Mutter bin, sosehr ich sie auch liebe.«
Ohne einen weiteren Kommentar abzugeben, wünschte Niall ihr eine gute Nacht und ging mit raschen Schritten in den
Weitere Kostenlose Bücher