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Der rote Hahn: Dresden im Februar 1945 (German Edition)

Der rote Hahn: Dresden im Februar 1945 (German Edition)

Titel: Der rote Hahn: Dresden im Februar 1945 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Walter Kempowski
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richtig zu essen bekamen. Wir hatten uns im Hof ein Feuerchen gemacht und kochten gemeinschaftlich. Kartoffeln, Gemüse und Kompott hatten wir ja im Keller. Davon verbrauchten und verschenkten wir lustig drauf los. Die Gefangenen wollten immer Kirschen und Stachelbeeren, was sie auch bekamen, und die große Mohnlänge, die in einer großen Schüssel vor der Flurtür gestanden hatte und im Feuer und Qualm noch einmal gebacken war, verspeisten sie auch mit größtem Behagen. Am Sonntag früh fuhren wir los zu Teuschers, die ja wohl beim Anblick der vielen Sachen einen gelindenSchrecken bekamen. Aber die Wirtsleute waren auch freundlich, es wurde uns ein ganz schmaler Raum im Kellergeschoß zugewiesen, in dem wir wenigstens die Kisten verstauen konnten. Teuschers selbst traten uns ein Zimmer ab, in dem wir unsere zwei Betten aufstellen konnten und uns ganz behaglich einrichteten, nachdem wir noch zweimal mit dem Handwagen den weiten Weg gemacht hatten. Ich war damals oft körperlich so müde, daß mich auch ein Gefühl der Trostlosigkeit beschlich – aber es ging immer schnell vorüber, waren wir doch alle wieder vereint und hatten zudem gute Freunde, die uns halfen, wo immer sie konnten. Zum Glück waren unsere Fahrräder nicht mit verbrannt, und sobald die Straßen wieder halbwegs passierbar waren, fuhr ich mit dem Rad, als Kopfbedeckung den Luftschutzhelm (ich fühlte mich dadurch sehr gesichert zwischen den gefahrdrohenden Ruinen), oft noch zu unserer Ruine, um noch dies und jenes zu holen. Aber es dauerte nicht lange, da war alles aus Keller und Laube gestohlen.
    Damals galt es schon, sehr sparsam zu wirtschaften, doch war es noch kein Vergleich zu dem, was später kam. Wir hatten noch immer alle Tage unsere Kartoffeln. Mit viel Mühe karrten wir auch sechs Zentner aus Boxdorf herunter. Unvergeßlich davon ist mir der Eindruck, als uns Kriegsgefangene im Walde (sie arbeiteten dort) um eine gefährliche Kurve halfen. Sie bettelten um ein paar Kartoffeln, wir gaben sie ihnen natürlich. Mich packte dort der Menschheit ganzer Jammer an: Vor Hunger um rohe Kartoffeln betteln! – und wie bald ging es uns und unzähligen andern noch viel, viel schlimmer!
     
    Klotzsche Victor Klemperer 1881–1960
    15. Februar, Donnerstag morgen – 17. Februar, Sonnabend abend
    Die erste Wonne war der Riesenkessel Nudelsuppe im Schlafsaal. Ich nahm ruhig den Löffel eines alten Mannes, der vor mir gegessen hatte. Ich aß drei tiefe Teller. Dann gingen wir auf Suche nach unseren Leuten und fanden sie rasch in einem ganz ähnlichen Saal eines ganz ähnlichen anderen Hauses. Immer habe ich mich in diesen gleichförmigen Labyrinthen verirrt. Wir fanden die Ehepaare Waldmann und Witkowsky und die Frau Bein, der man Mann und Sohn im KZ erschossen hat. Gute Leute, aber auf die Dauer – bis Sonnabend war es genug – ein bißchen zu sehr populusque. Ebenso wie der arische Teil der Belegschaft. Wo waren die gebildeten Leute geblieben? Wir fragten es uns beide. Wahrscheinlich gibt es davon so wenige, daß sie bei solcher Katastrophe überhaupt verschwinden. Ein grauhaariger Mann sah aus wie ein Hauptmannscher Bühnenvagabund. In der Nacht ließ er Evas Wolljacke und Rock unter seinem Kissen verschwinden. Als Eva energisch nachforschte und fand, erklärte er, er habe sich im Dunkeln geirrt. Bei dieser Gelegenheit zeigte sich der Wankelmut der Volksstimmung. Erst war man über den versuchten Diebstahl empört. Dann aber lehnte sich ein Weib auf: »Warum schläft se nackig? Warum paßt se nich uff?« Und die Stimmung schlug um. Der Populusque – der jüdische mit inbegriffen – war anspruchsvoller als wir: Bald war die Suppe zu eintönig, und unmöglich konnte man sich daran satt essen!, bald war zu wenig »Betreuung« vorhanden, bald sehnte man sich nach eigenem Zimmerund »Selberkochenkönnen«. Frau Bein war das volkstümlichste Gemüt unserer Gruppe; morgens wachte sie weinend auf: »Alle Möbel, alles verloren!«, gleich darauf war sie vergnügt. Uns nahm man wohl ein bißchen übel, daß wir tagüber unsere eigenen Wege gingen. Auch daß wir am Essen nicht mäkelten. Natürlich wurde es wirklich eintönig, immer dieselbe Suppe (nicht mehr das schöne Nudelgemisch des ersten Morgens) und Schüsseln mit zerkrümelten Brotresten dazu – von welch schmutzigen Fingern zerkrümelt! –, aber wir waren eben dankbar, satt zu werden.
    Noch vor dem Mittagessen hatten wir am Donnerstag Alarm, und der Luftschutzkeller war ein sehr leichtes Bauwerk,

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