Der Rote Krieger: Roman (German Edition)
auch an ihrem Gesicht.
Und sie hielt ein ausgekochtes Leinentuch in der einen Hand und eine scharfe Schere in der anderen. »Halt ihn fest, dann geht es schneller«, sagte sie ganz geschäftsmäßig.
Gawin wandte das Gesicht ab.
»Also wirklich«, meinte der Hauptmann, als der Verband abgenommen war, »du solltest es genießen, dass sich eine solche Schönheit an deinen Lenden zu schaffen macht.«
Amicia hielt inne. Zum ersten Mal seit vielen Tagen sah er ihr in die Augen und kam sich sogleich wie ein Narr vor. »Entschuldigung«, murmelte er schwächlich.
Aber sie hielt seinem Blick stand. Und dann sah er, wie sie Gawin zuzwinkerte. »Ein Geheimnis für ein Geheimnis«, sagte sie mit ganz leicht hochgezogenen Mundwinkeln. Sie beugte sich über die lange Wunde am Bein des jungen Ritters, und als ihre Lippen nur noch eine Fingerbreite von seinem Schenkel entfernt waren, atmete sie aus – lange –, und dabei schloss sich die Wunde. Der Hauptmann sah, wie die Macht durch sie hindurchfloss; er bemerkte ein starkes Pulsieren, das so gewaltig war wie nichts anderes.
In seinen Augen war diese Macht hellgrün.
Amicia sah auf und zwinkerte ihm zu. In ihrem Blick lagen Herausforderung und Versprechen, und es dauerte nur einen einzigen Herzschlag, bis er beides angenommen hatte.
»Was hat sie getan?«, fragte Gawin. Der breite Oberkörper des Hauptmanns nahm ihm die Sicht. »Es ist alles taub.«
»Einen Umschlag«, meinte der Hauptmann fröhlich. Plötzlich duftete es im Raum nach Sommerblumen. Amicia wickelte frisches Leinen um die Wunde, wischte das neu ausgetretene Blut ab, und dann auch das ältere.
Gawin versuchte sich aufzurichten, aber der Hauptmann drückte ihn auf das Bett zurück. Unter seiner rechten Hand fühlte sich die Schulter seines Halbbruders gar nicht richtig an. Er rollte den Kragen des Hemdes herunter.
Gawins Schulter war so fein geschuppt wie ein Fisch – oder ein Lindwurm. Der Hauptmann fuhr mit den Fingerspitzen darüber, und hinter ihm keuchte Amicia scharf auf.
Gawin ächzte. »Und du glaubst, du seiest von Gott verflucht?«
Amicia betastete ebenfalls die Schuppen des jungen Ritters, und der Hauptmann stellte fest, dass er sofort eifersüchtig wurde.
»So etwas habe ich früher schon einmal gesehen«, sagte sie.
Gawins Miene hellte sich sofort auf. »Wirklich?«, fragte er.
»Ja«, erwiderte sie.
»Kann es geheilt werden?«, wollte er wissen.
Sie biss sich auf die Lippe. »Ich weiß es wirklich nicht, aber es war nicht ungewöhnlich bei … bei …«, stammelte sie.
Der Hauptmann dachte, dass ein Astrologe nun erklären werde, dies sei der Tag der Geheimnisse und ihrer Enthüllung.
»Ich will mich darum kümmern«, sagte sie mit der Sicherheit eines Arztes und schwirrte aus dem Raum; das blasse Grau ihres Überwurfs flatterte hinter ihr her.
Gawin sah ihr nach, ebenso wie der Hauptmann. »Sie hat die Macht genutzt«, meinte Gawin leise.
»Ja«, bestätigte der Hauptmann.
»Sie ist …« Gawins Kopf sank zurück. »Ich war auf dem Weg nach Norden«, begann er. »Der König hat mich vom Hof verbannt, weil ich den Mund zu voll genommen hatte. Ich hatte mich verliebt … nein, ich erzähle es nicht richtig. Ich hatte versucht, die Kammerzofe der Königin zu beeindrucken. Sie … ach, es ist gleich. Ich habe etwas zum König gesagt, das ich besser nicht gesagt hätte, und er hat mich in die Wildnis geschickt, damit ich mir Ruhm und Ehre erwerbe.« Gawin schüttelte den Kopf. »Ich habe einen großen Namen als angeblicher Schrecken der Wildnis. Weißt du auch warum? Nachdem wir dich getötet hatten – nun ja, nachdem wir es geglaubt hatten –, bin ich in die Wildnis geritten, weil ich dort sterben wollte. Allein.« Er lachte wieder. »Ein Dämon hat mich angegriffen, und ich habe ihn getötet.« Sein Lachen klang ein wenig zu wild. »Es war ein Handgemenge. Ich hatte meinen Dolch im Kampf verloren und habe das Wesen erwürgt, und deshalb nennen mich die anderen Harthand .«
»Vater muss sehr stolz auf dich gewesen sein«, murmelte der Hauptmann.
»Oh, das war er«, bestätigte Gawin. »So stolz, dass er mich an den Hof geschickt hat, sodass mich der König wiederum wegschicken konnte. Ich bin nordwärts nach Lorica geritten und in einer Herberge eingekehrt.« Er wandte den Kopf ab. »Ich bin mir nicht sicher, ob ich dir das erzählen kann, während ich dich ansehe. Ich habe einige Zimmer bezogen. Ein ausländischer Ritter kam mit seinem Gefolge – ich weiß nicht, wie viele es
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