Der Rote Krieger: Roman (German Edition)
genau waren, aber es müssen mindestens hundert Ritter gewesen sein. Jean de Vrailly, verflucht sei sein Name vor Gott. Er hat mich hinaus in den Hof gerufen, zum Zweikampf herausgefordert und sofort angegriffen.« Gawin verstummte.
»Ach ja? Du warst schon immer ein besserer Schwertkämpfer als ich«, sagte der Hauptmann.
Gawin schüttelte den Kopf. »Nein. Nein, du bist der bessere gewesen. Ser Hywel hat es mir nach deinem angeblichen Tod eröffnet. Du hattest nur so getan, als wärest du unfähig.«
Der Hauptmann zuckte die Achseln. »Gut. Aber du warst und bist ein guter Soldat.«
»Ser Jean hält sich selbst für den besten Ritter der Welt«, sagte Gawin.
»Wirklich?«, meinte der Hauptmann. »Das ist aber sehr gefährlich.«
Gawin schnaubte verächtlich. »Du hast dich wirklich nicht verändert.«
»Doch, das habe ich«, wandte der Hauptmann ein.
»Ich hätte nie geglaubt, dass ich kichern kann, während ich das erzähle. Er steckte in seiner Rüstung – ich nicht.«
Der Hauptmann nickte. »Das ist klar, denn schließlich ist er ein Gallyer. Ich habe vor Kurzem dort gekämpft. Sie nehmen sich alle ungemein ernst.«
»Ich hatte nur ein Reitschwert – beim heiligen Georg, ich versuche mich zu sehr zu entschuldigen. Ich habe ihm standgehalten, habe eine Wunde davongetragen, und dann hat er mich gepackt, sodass ich aus Versehen mein eigenes Schwert in einen meiner Knappen gerammt habe. Mein eigenes Schwert hat einen meiner Männer getötet!« Nun war aller Humor verflogen, und Gawins Stimme befand sich irgendwo zwischen Schluchzen und völliger Ausdruckslosigkeit. »Ich hatte jedes Gefühl für den Kampf verloren, da hat er mich besiegt und in den Dreck gestoßen. Ich musste zugeben, dass ich unterlegen war.«
Wie das wohl geschmeckt haben mag?, dachte der Hauptmann. Er hatte sich tausendmal vorgestellt, dasselbe mit diesem Mann, der da vor ihm stand, zu machen. Und nun saß er an seinem Bett und versuchte zu begreifen, was sich in den letzten Minuten alles verändert hatte. Inzwischen erschien es ihm unmöglich, dass er sich diese Demütigung seines Halbbruders je vorgestellt hatte. Dass er sie ersehnt hatte. Dass er sie in seiner Vorstellung genossen hatte – noch vor zwei Tagen.
»Dann ist er in die Herberge gegangen und hat meinen anderen Knappen getötet«, fuhr Gawin fort und zuckte die Schultern. »Ich habe geschworen, ihn umzubringen.«
Nun verspürte der Hauptmann den unbezwingbaren Drang, Amicia zu folgen. Er empfand die Notwendigkeit, sie an ihr Schweigegelübde zu erinnern. Oder war das nur ein Vorwand? Der Schmerz in Gawins Stimme, rau, wie ein deutlich sichtbarer Bluterguss … Er hatte sich erst kurz zuvor gezwungen, den jüngeren Mann anzuhören, und nun war er zu dessen Beichtvater geworden.
So war es nun einmal, wenn man Hauptmann war.
»Dein Feind ist mein Feind«, sagte er einfach, beugte sich hinunter und legte die Arme um den Hals seines Bruders. Bei der Familie Murien galt eine gute Hassbezeugung als Möglichkeit, seine Liebe zu zeigen. Manchmal war es sogar die einzige.
»O Gabriel!«, sagte Gawin und brach in Tränen aus.
»Gabriel ist gestorben, Gawin«, sagte der Hauptmann.
Gawin rieb sich die Augen trocken. »Du hast sicherlich schon genug eigene Schwierigkeiten.« Er mühte sich an einem Lächeln ab.
»Wo soll ich anfangen?«, fragte der Hauptmann. »Ich werde von einem Feind belagert, der jede Art von Kreatur für seine Zwecke einsetzen kann, der mir im Verhältnis von zehn oder gar zwanzig zu eins überlegen ist und von einem gnadenlosen Genius angeführt wird.«
Gawin gelang ein weiteres Lächeln. »Mein Bruder ist doch auch ein gnadenloser Genius.«
Der Hauptmann grinste.
Gawin nickte. »Du willst etwas Verrücktes tun. Ich spüre es. Erinnerst du dich an die Sache mit den Hühnchen? Oder an dein alchemistisches Experiment?«
Der Hauptmann sah sich um, als fürchte er, belauscht zu werden. »Heute Nacht wird er uns hart treffen. Er muss es tun. Bisher sieht es trotz all seiner Bemühungen nämlich so aus, als ob die Belagerung nicht erfolgreich wäre. Einige der Seinen werden ihn als schwach ansehen und über ihn herfallen. So ist das in der Wildnis nun einmal.«
Gawin zuckte die Achseln. »Sie sind der Feind. Wer kann schon sagen, was sie denken?«
Der Hauptmann schenkte ihm ein grimmiges Lächeln. »Ich. Nur zu gut.«
»Ach ja?«, fragte Gawin nach einem kurzen Augenblick. »Woher weißt du das? Was denken sie denn?«
Der Hauptmann holte tief
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