Der Rote Krieger: Roman (German Edition)
auf einem hohen Stuhl saß und mit einem Vergolderpinsel arbeitete. Die Darstellung wirkte so genau, dass der Leser erkennen konnte, mit welchem Werk der Künstler gerade beschäftigt war – es handelte sich um das erste Blatt des vorliegenden Buches in Miniaturform.
Anerkennend zog der Hauptmann die Luft ein und freute sich über den Humor des Miniaturisten. Dann fing er zu lesen an.
Er drehte die Seite um und stellte sich vor, was seine geliebte Prudentia über das barbarische Archaisch des Kopisten gesagt hätte. Er sah die alte Nonne vor sich, wie sie im Privatgemach seiner Mutter mit dem Finger wedelte.
Dann schüttelte er den Kopf.
Die Tür zu den Gemächern der Äbtissin wurde geöffnet, und der Priester eilte mit gefalteten Händen und verkniffenem Gesicht heraus. Er wirkte wütend.
Hinter ihm gab die Äbtissin ein leises Lachen von sich, das allerdings beinahe zu einem Hohngelächter wurde. »Ich hatte gehofft, dass Ihr unsere Bücher betrachtet«, sagte sie zu dem Hauptmann und sah ihn freundlich an. »Und meinen Parcival .« Sie deutete auf den Vogel.
»Ich verstehe nicht, warum etwas so schlecht Geschriebenes derart hervorragende Illustrationen bekommen hat«, meinte er und blätterte eine weitere Seite um. »Wenn das Euer Vogel ist, dann seid Ihr noch tapferer, als ich es vermutet hatte.«
»Bin ich das?«, fragte sie. »Ich besitze ihn schon seit vielen Jahren.« Sie sah den Vogel, der auf seiner Stange hockte, zärtlich an. »Erkennt Ihr nicht, warum das Buch so kostbar illustriert ist?«, fragte sie mit einem Lächeln, das ihm verriet, dass es hier ein Geheimnis gab. »Wisst Ihr, Hauptmann, wir besitzen eine Bibliothek. Vielleicht wird sich unsere Gastfreundschaft sogar auf sie erstrecken, sodass Ihr sie benutzen dürft. Wir haben darin mehr als fünfzig Bände gesammelt.«
Er verneigte sich. »Würde es Euch entsetzen, wenn ich Euch verriete, dass ich keine besondere Begeisterung für das Leben der Heiligen verspüre?«
Sie zuckte die Achseln. »Posiert nur weiter, kleiner Atheist. Mein sanfter Jesus liebt Euch trotzdem.« Sie schenkte ihm ein schiefes Lächeln. »Es tut mir leid. Ich würde mich gerne noch den ganzen Morgen mit Euch streiten, aber es gibt Schwierigkeiten in meinem Haus. Können wir also zum Geschäft kommen?« Sie bedeutete ihm, auf einem Schemel Platz zu nehmen. »Ihr tragt weiterhin Eure Rüstung«, bemerkte sie.
»Wir befinden uns noch immer auf der Jagd«, sagte er und schlug die Beine übereinander.
»Aber Ihr habt das Ungeheuer umgebracht. Glaubt nicht, dass wir nicht dankbar sind. Ich bedaure meine Leichtfertigkeit Euch gegenüber, vor allem da Ihr einen Mann von großem Wert verloren habt und dennoch so erfolgreich wart.« Sie zuckte noch einmal mit den Schultern. »Und Ihr habt Eure Arbeit vor dem Neumond erledigt – und vor der Eröffnung meines Jahrmarktes.«
Er machte ein grimmiges Gesicht. »Mylady, gern würde ich Eure Wertschätzung verdient haben, und nur wenig kann mir größeres Vergnügen bereiten, als Euren Entschuldigungen zuzuhören.« Nun zuckte auch er die Achseln. »Aber auch ich bin nicht hergekommen, um mich mit Euch zu messen. Auf unwürdige Weise hatte ich angenommen, Ihr wolltet mich abkühlen lassen, indem Ihr mich Demut lehrt.«
Sie betrachtete ihre Hände. »Ihr könntet einiges davon gebrauchen, junger Herr, aber leider liegen an diesem Tag noch andre Aufgaben vor mir, sodass ich es mir nicht leisten kann, Euch Manieren beizubringen. Doch warum sagt Ihr, dass Ihr meinen Respekt nicht verdient hättet?«
»Wir haben ein Ungeheuer getötet«, gab er zu. »Allerdings war es nicht das, welches Eure Schwester Hawisia umgebracht hat.«
Ruckartig streckte sie das Kinn vor – eine solche Reaktion hatte er bei ihr bisher noch nicht beobachtet. »Ich nehme an, dass Ihr genau wisst, was Ihr sagt. Aber Ihr müsst mir vergeben, wenn ich Zweifel anmelde. Wir hätten also zwei Ungeheuer? Ich erinnere mich daran, dass Ihr gesagt habt, so weit von der Wildnis entfernt jage der Feind selten allein. Aber Ihr wisst doch sicherlich, dass wir gar nicht mehr so furchtbar weit von der Wildnis entfernt sind, wie wir es einmal waren.«
Er sehnte sich nach einem Stuhl mit einer Rückenlehne. Er wünschte sich, Hugo würde noch leben und er hätte sich nicht mit Fragen der inneren Disziplin abzugeben, die eigentlich zu dessen Aufgaben gehört hatten. »Darf ich ein Glas Wein bekommen?«, fragte er.
Die Äbtissin hatte einen Stock, und mit diesem klopfte sie
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