Der Rote Mond Von Kaikoura
Dunkel dem Bild einer grünen Wiese und von Bergen, über die sich ein blauer Himmel spannte. Das karakia durchdrang ihre Seele und legte eine seltsame Ruhe darüber, so als würden sämtliche Sorgen nicht mehr existieren.
Als Henare das Lied beendete, war es, als würde sie in einen kalten Abgrund stürzen. Nach Luft schnappend, riss sie die Augen auf und stellte fest, dass sie noch immer am Bett ihres Großvaters saß.
»Wie ich sehe, hat das Lied auch auf Sie eine Wirkung«, stellte Henare fest, als er ihr die Flöte zurückgab.
»Ja, es war wunderschön«, entgegnete Lillian. »Wo haben Sie so spielen gelernt?«
»Das lernen die Maori schon von klein auf; jedes Kind wird Ihnen diese Melodie vorspielen können, vielleicht sogar noch besser, als ich es getan habe.«
»Das kann ich mir kaum vorstellen.«
»So ist es aber.«
Henare blickte nun zu Georg, dessen Atemzüge ein wenig kräftiger geworden waren.
»Ob es ihm genützt hat?«, fragte Lillian besorgt.
»Das werden wir sehen. Wenn Sie wollen, spiele ich es ihm gern noch einmal vor.«
»Gern«, entgegnete sie. »Sie wollen sich also in den nächsten Tagen wieder blicken lassen? Obwohl Sie dafür Ärger bekommen könnten?«
»Den Ärger habe ich schon bekommen, ohne etwas Falsches getan zu haben. Vielleicht ist es ein schlechter Charakterzug von mir, doch wenn man mich von etwas abhalten will, das ich für gut befunden habe, kann ich furchtbar stur sein und mache es dann gerade, auch wenn ich dafür Repressalien befürchten muss. Und jetzt sollten Sie vielleicht ein wenig schlafen, ich werde über ihn wachen und Ihnen sofort Bescheid geben, wenn sich etwas verändert hat.«
Lillian wollte schon erwidern, dass das nicht nötig sei, doch das Lied hatte nicht nur ihre Seele für einen Moment von ihrer Last befreit, es hatte sie auch sehr müde gemacht. Also nickte sie und begab sich mit dem guten Gefühl, dass sie Henare vertrauen konnte, in ihr Zimmer.
26
In den folgenden Tagen war Henare neben Dr. Corben ein häufiger Gast in ihrem Haus. Natürlich musste er seine Pflichten in Blenheim erledigen, doch wenn sein Arbeitgeber nicht da war, nahm er sich hin und wieder ein paar Stunden frei, um Lillian und ihren Großvater zu besuchen.
»Sie werden noch in Teufels Küche kommen«, mahnte Lillian kopfschüttelnd, als er wieder einmal ein wenig Zeit von seiner Arbeit abgeknapst hatte.
»Warum denn? Meine Arbeit ist erledigt«, verteidigte er sich. »Solange das der Fall ist, wird Mr Caldwell keine Einwände haben.«
»Und wenn er Sie zufällig hier sieht, wird er Sie ganz rauswerfen.«
Henare schüttelte den Kopf. »Keine Sorge, ich bin vorsichtig. Gibt es schon irgendwelche Neuigkeiten von der Baustelle?«
»Nein, nicht, dass ich wüsste.« Lillian erhob sich, holte zwei Tassen und schenkte Kaffee ein.
Mrs Blake, die mittlerweile von Georgs Zustand erfahren hatte, hatte es sich nicht nehmen lassen, persönlich einen Korb mit Gebäck vorbeizubringen.
Als Lillian peinlich berührt anmerkte, dass ihr Großvater nicht so viel essen könne, hatte sie geantwortet: »Der Kuchen ist natürlich auch für Sie, meine Liebe, denn Sie werden die meiste Kraft brauchen, um ihn zu pflegen.«
Von diesem Kuchen servierte sie Henare nun ein Stück und saß in schweigendem Einvernehmen mit ihm am Küchentisch.
»Und, haben die karakia schon Wirkung gezeigt?«, fragte Henare, nachdem er den letzten Schluck Kaffee getrunken hatte.
»Es geht ihm auf jeden Fall nicht schlechter«, antwortete Lillian, denn sie wollte ihm nicht zu viel Hoffnung machen. »Dr. Corben meinte, dass es noch eine ganze Weile dauern wird, bis er sich wieder erholt. Wir müssen warten, und das macht mich fast genauso verrückt wie die Tatsache, dass ich nicht weiß, was auf der Baustelle los ist. Ich sage mir, dass es Großvater vielleicht wieder Auftrieb geben würde, wenn man ihm etwas von dort erzählt, doch Caldwell hat sich seit seinem letzten Besuch am Tag nach der Mondfinsternis nicht mehr blicken lassen. Langsam habe ich das Gefühl, dass er uns ausbooten will.«
»Das glaube ich nicht«, entgegnete Henare. »Wahrscheinlich hat er einfach nur Angst, Ihnen noch einmal unter die Augen zu kommen.«
»Oder er hat erfahren, was nach seinem Besuch geschehen ist.«
»Das bezweifle ich, dass Nachrichten aus der Stadt so schnell auf der Baustelle ankommen. Caldwell hat sich dort eingenistet und neigt dazu, den Ort nur zu verlassen, wenn er muss.«
»Und wenn Sie ihm Bescheid geben?«
»Er hat
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