Der Rote Mond Von Kaikoura
und im nächsten Augenblick ertönte ein lautes Krachen ringsherum. Nicht nur ihr Haus stürzte ein, auch das Haus von Mrs Peters fiel in sich zusammen. Geistesgegenwärtig warf sich Henare auf Lillian, um sie vor den umherfliegenden Trümmerstücken und dem Staub zu schützen.
Während er mit rasendem Herzen den Kopf einzog, fragte er sich, wie lange es noch dauern würde. In seiner Not begann er, in seiner Muttersprache leise ein paar Worte an papa und rangi zu richten, mit der Bitte, das Toben zu beenden. Unter sich spürte er das Zittern und Schluchzen von Lillian, und auch sie schloss er in seine Bitte an die Götter ein. Doch offenbar schienen sie ihn nicht zu hören, denn die Erde bebte weiter, ringsherum stürzten weitere Gebäude ein, und der aufwirbelnde Staub verdunkelte den Himmel. Nach nur wenigen Augenblicken waren sie selbst vollkommen mit Staub bedeckt, der ihnen in den Augen brannte und ihren Mund austrocknete.
Durch das Getöse ertönten von irgendwoher Schreie, doch Henare wagte es nicht, den Kopf zu heben. Er vergrub sein Gesicht in Lillians Haaren und wisperte weiter in seiner Muttersprache Beschwörungen an die alten Götter, zu denen er seit seiner Jugendzeit nicht mehr gebetet hatte.
Nach einigen Minuten ließen die Erdstöße nach. Eine seltsame Stille senkte sich auf die Stadt. Es schien, als sei alles Leben von dem Getöse verschlungen worden.
Doch Henare hörte deutlich das Hämmern seines Herzens, und er spürte Lillians Atem unter sich. Sie hatten es überlebt! Als er vorsichtig den Kopf hob, rieselte Staub aus seinem Haar. Langsam richtete er sich auf und bemerkte dabei, dass seine Glieder zitterten. Dennoch schaffte er es, sich von Lillian herunterzurollen und sich neben sie zu hocken.
Die vormals blühende Straße bot ein Bild der Verwüstung. Sämtliche Häuser in der Nachbarschaft waren zerstört. Mauern waren eingerissen, Fenster zersplittert, Dachstühle hingen schief herunter.
Im Gegensatz zu vorhin wirkte Lillian erst einmal viel zu schockiert, um in Tränen auszubrechen. Auch Henare blieb stumm, wenngleich Tränen in seine Augen stiegen. Warum nur hatten die Götter ihren Zorn an ihrem Land ausgelassen? Was hatten sie getan, um sie zu erzürnen?
Im nächsten Augenblick fiel ihm Georg ein.
»Wir müssen deinen Großvater da rausholen«, sagte er und wollte schon aufspringen, doch Lillian hielt ihn zurück und sagte mit tonloser Stimme: »Großvater ist tot. Er war schon tot, bevor es losging.«
»Was sagst du da?«
»Er ist gestorben. Ich habe ihm einmal die Stirn gekühlt, dann wurde er wach und hat sich von mir verabschiedet. Und dann ist er gestorben.«
Der Blutmond, dachte Lillian. Hatte Henare recht, dass er das Unglück angekündigt hatte?
Der Haufen Holz und Steine, der vormals ihr Haus gewesen waren, glich einem riesigen Grab. Schmerzvoll krampfte sich ihr Herz zusammen, wenn sie daran dachte, dass sich da drinnen ihr Großvater befand. Ihr Großvater, der bereits tot gewesen war, als die Steinmassen auf ihn niedergegangen waren.
Für einen Moment konnte Lillian nichts anderes tun, als die Trümmer anstarren. Georgs letzte Worte zogen bruchstückhaft durch ihren betäubten Verstand. »Dein Geschenk, meine Prinzessin … im Seesack ist ein Tagebuch … das Tagebuch meines Versprechens … versprich mir, dass du das Buch liest …«
In diesem Augenblick konnte Lillian allerdings überhaupt nichts tun. Nicht darüber nachdenken, wo sie das Buch finden sollte. Nicht darüber nachdenken, wie sie ihren Großvater bergen sollte. Und auch nicht daran denken, wie sie die Sternwarte wieder aufbauen sollte. Sie stand einfach nur da und blickte auf die Trümmer, spürte, wie ihr Herz gegen ihren Brustkorb hämmerte und die Tränen ihre Kehle zusammenschnürten.
Ach, Großvater, zog es ihr durch den Sinn, vielleicht hättest du dein Versprechen vergessen sollen.
Aber ihr Großvater hatte immer das getan, was er für richtig hielt – und er hatte stets seine Versprechen gehalten.
Wenig später spürte sie eine Hand auf ihrer Schulter. Henares Hand. Seine Schritte hatte sie nicht gehört, aber seine Hand spürte sie deutlich. Warm und trotz allem, was geschehen war, kräftig, lag sie auf ihrer Haut.
Glücklicherweise sagte er nicht, dass sie mitkommen sollte oder dass alles wieder gut werden würde. Er stand einfach nur da, berührte sie, sagte aber nichts, denn er wusste, dass nichts das Geschehene ungeschehen machen konnte.
Schließlich kehrten die Tränen
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