Der Rote Mond Von Kaikoura
krallte sich an ihre Hand. »In meinem Seesack findest du ein Buch. Das Tagebuch meiner Reise in dieses Land. Das Tagebuch meines Versprechens. Ich habe es so lange vor dir geheim gehalten, doch jetzt, da ich schon bald nicht mehr auf dieser Welt sein werde …«
Lillian sah ihren Großvater erschrocken an. Ihr Schluchzen unterbrach ihn kurz und brachte ihn dazu, ihre Hand loszulassen und nach ihrem Gesicht zu tasten.
In dem Augenblick ertönte erneut ein lautes Grollen. Erschrocken blickte sie auf. Was war das? Der Lärm konnte die Angst um ihren Großvater allerdings nicht vertreiben.
»Hörst du die Götter?«, fragte er mit einem seltsamen Lächeln auf seinen fahlen Zügen. Er fantasiert, dachte Lillian, während sich ihre Kehle unter einer Gewissheit zusammenschnürte, die sie sich nicht eingestehen wollte. »Sie rufen nach mir. Bitte, versprich mir, dass du das Buch liest. Und dass du die Sternwarte wieder aufbaust. Sie ist dein Geschenk, meine kleine Prinzessin.«
»Aber Großvater …« Lillian schrie auf, als Georgs Hand schlaff von ihrem Gesicht herabfiel und sein Blick erstarrte.
»Nein!« Zunächst presste sie es nur hervor, dann wurde das Wort zu einem Schrei.
Schluchzend warf sie sich über ihren Großvater, rüttelte ihn, als könnte das das Leben wieder in ihn zurückbringen, doch er blieb starr.
Lillian begann zu schreien. Sie krallte sich an die Decke und weinte. Weinte, bis aus dem Grollen plötzlich ein heftiges Rucken wurde und die Welt auf einmal auseinanderbrach.
Das Erdbeben traf die Stadt vollkommen unvorbereitet. Obwohl Henare gerannt war, hatte er nicht mehr die Gelegenheit, den Arzt zu erreichen. Ein harter Ruck warf ihn zu Boden; wenig später ertönte ein ohrenbetäubendes Krachen neben ihm.
Lillian!, dachte er nur und rappelte sich auf. Er wusste nicht, welche Angst in diesem Augenblick größer war, die um Lillian oder seine eigene.
Hastig rappelte er sich auf, während unter ihm die Erde bebte. Er wusste nicht, wie, doch irgendwie gelang es ihm, auf dem wackligen Untergrund zu rennen. Neben ihm stürzten Häuser ein, Menschen schrien, doch ihre verzweifelten Stimmen wurden verschluckt von dem Tosen, das immer lauter wurde. In Panik stürmten ihm einige Leute entgegen, ein Pferd, das sich aus Angst losgerissen hatte, preschte wiehernd durch die Menge und trampelte einen Mann nieder, der unglücklicherweise den Weg des blind fliehenden Tiers kreuzte.
Schultern und Arme schlugen gegen Henares Oberkörper, der Strom der Flüchtenden drohte ihn mitzureißen, doch er stemmte sich dagegen. Für Lillian, sagte er sich. Ich muss wissen, ob sie aus dem Haus rausgekommen ist. Und dann muss ich ihren Großvater retten, er ist alles, was sie noch hat …
Während das Schaukeln ihn wieder von den Füßen zu reißen drohte, gelang es ihm endlich, sich aus der Menschenmenge zu befreien. Als er die Straße zu Lillians Haus hochrannte, wurde er Zeuge, wie Dächer einstürzten, Menschen wie von Sinnen auf die Straße rannten und Staub zwischen den noch stehenden Mauern aufwirbelte.
Und dann sah er das Haus. Es war zur Hälfte eingestürzt, und von Lillian war nichts zu sehen. War sie in der Küche gewesen, als es begann?
Auch auf die Gefahr hin, vom Dachstuhl begraben zu werden, stürmte Henare den schmalen Weg zum Haus hinauf und bahnte sich einen Weg durch die Trümmer.
»Lillian!«
Henare stürmte durch das Loch, das früher einmal die Stubentür gewesen war. Als er die schluchzende Frau und den bleichen alten Mann sah, erstarrte er für wenige Sekunden. Doch als die Erde unter seinen Füßen wieder erbebte, kam Leben in ihn. Er eilte zum Bett, erkannte, dass Georg nicht mehr zu helfen war, und zog Lillian dann vorsichtig an der Taille nach oben.
»Du musst hier raus! Es wird weitere Erdstöße geben.«
»Nein!«, kreischte Lillian hysterisch. »Ich kann Großvater nicht hierlassen!«
»Dein Großvater ist bei seinem Gott«, entgegnete Henare, der Mühe hatte, sie zu bändigen, denn Lillian versuchte mit aller Kraft, sich aus seinem Griff zu winden. »Bitte, du musst mit mir ins Freie kommen. Das Haus kann jeden Augenblick zusammenbrechen!«
Noch immer schrie und weinte Lillian, doch ihre Gegenwehr erlahmte, und sie gestattete Henare, sie nach draußen zu bringen.
Sie hatten das halb eingestürzte Haus gerade verlassen, als ein heftiger Erdstoß den Boden derart zum Erzittern brachte, dass sie sich nicht mehr auf den Füßen halten konnten. Brutal wurden sie zu Boden gerissen,
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