Der Rote Mond Von Kaikoura
Lillian ein wenig peinlich, dass ihr dergleichen auffiel.
»Mrs West!«, rief sie. »Sind Sie verletzt?«
»Nein, glücklicherweise nicht. Ich konnte mich noch rechtzeitig aus meiner Werkstatt retten. Meine Kleider sind allerdings dahin, fürchte ich. Aber das ist jetzt Nebensache. Ich nehme an, dass Sie hier sind, um zu helfen.«
»Ja, das wollte ich.«
»Gut. Wenn Sie möchten, können Sie mich begleiten. Die Verschütteten können sicher unsere Hilfe gebrauchen.«
»In Ordnung, ich komme mit Ihnen. Weiß man denn schon, wer verschüttet wurde?«
»Nein, aber es werden so einige sein. Den nördlichen Stadtrand hat es am schlimmsten erwischt.«
Damit rannte Mrs West los. Lillian fragte sich, ob sie dem Anblick von Verletzten und Sterbenden gewachsen sein würde, doch als sie in sich hineinhörte, bemerkte sie eine seltsame Taubheit. Es war fast so, als hätte all der Schrecken, den sie in so kurzer Zeit erlebt hatte, ihre Gefühle eingefroren. Diese Menschen brauchen mich, sagte sie sich. Großvater wäre stolz auf mich, wenn ich ihnen helfe.
So rasch, wie Mrs West ausschritt, hatte sie Mühe, ihr zu folgen. Unterwegs schlossen sich ihnen noch weitere Frauen an, alle staubbedeckt und mit zerrissenen Kleidern; einige wirkten, als seien sie selbst erst vor wenigen Augenblicken gerettet worden.
Im Nordteil der Stadt sah es tatsächlich besonders schlimm aus. Balken, Schutt und Steine waren über die Straße verteilt. Hier hatten sich teilweise nicht einmal jene retten können, die bereits auf der Straße gewesen waren.
Die Männer, die Lillian beobachtet hatte, zogen mittlerweile die ersten Verletzten aus einem Trümmerhaufen. Der Mann und die Frau mussten Passanten sein, die von einer einstürzenden Wand getroffen worden waren. Beide waren bewusstlos und staubbedeckt, der Mann hatte eine klaffende Kopfwunde.
»Hier, Mädchen!«, rief eine Frau und drückte Lillian Verbandstücher in die Hand. Zunächst wusste sie nicht so recht, was sie damit tun sollte, doch Mrs West war sofort zur Stelle.
»Ich zeige Ihnen, wie man einen Verband anlegt«, sagte sie und nahm Lillian die Tücher aus der Hand. Damit hockte sie sich neben den Mann, der mit einem leisen Stöhnen wieder zu sich kam.
Lillian beobachtete, wie die Schneiderin die Wunde mit Jod abrieb, das sie in einer kleinen Flasche bei sich getragen hatte, und ihr dann zeigte, wie der Verband angelegt wurde.
»So, das machen Sie genauso«, wies Mrs West sie an. »Sollten Sie jemanden bekommen, der schwerer verletzt ist, rufen sie eine der anderen Frauen oder sorgen dafür, dass ihn die Männer zum Doc bringen.«
Lillian nickte, und mit einem Packen alter Laken und einer Flasche Jod, die jemand aufgetrieben hatte, begab sie sich an den Rand neben den Trümmern, wo sich auch bald schon weitere Frauen einfanden.
Die erste Verletzte, die man Lillian brachte, war ein kleines Mädchen, vielleicht fünf oder sechs Jahre alt. Während der Mann sie auf dem Boden ablegte, weinte die Kleine bitterlich und rief nach ihrer Mutter.
»Schsch, mein Schatz, es wird alles wieder gut«, sagte Lillian, doch das Mädchen schrie weiterhin so herzzerreißend, dass es Lillian selbst die Tränen in die Augen trieb. Fast wollte sie die Kleine schon einer anderen Frau überlassen, doch dann sagte sie sich, dass sie nicht davonlaufen konnte.
Sie versuchte, die Tränen des Mädchens so gut wie möglich zu ignorieren, während sie es vorsichtig abtastete. Natürlich würde das Kind einem Arzt vorgestellt werden müssen, denn niemand konnte verlangen, dass sie innere Verletzungen feststellen konnte. Doch die beiden Platzwunden an Knie und Stirn konnte sie verbinden.
Das Mädchen freilich hielt nur wenig von ihren Bemühungen. Blut, Tränen und Rotz legten einen klebrigen Schleier auf ihr Gesicht, während sie mit den Armen, die ebenfalls ein paar Kratzer abbekommen hatten, und dem gesunden Bein strampelte.
»Bleib ruhig, Schätzchen«, redete Lillian auf sie ein – ohne großen Erfolg. Sobald sie auch nur das aufgeschlagene Bein berührte, wehrte sich das Mädchen heftig. Da kam ihr auf einmal in den Sinn, was ihr Großvater immer getan hatte, wenn sie es sich nicht gefallen lassen wollte, dass er einen Splitter aus ihrem Finger zog oder ihr einen Verband anlegte: Sie sang.
Ihre Stimme klang kratzig und in ihrem Hals schien ein dicker Kloß zu sitzen, aber sie brachte es fertig, das alte Lied zu singen, das auch ihr Großvater, zuweilen mit recht schrägen Tönen, ihr manchmal
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