Der Rote Mond Von Kaikoura
zurück. Heiß liefen sie über ihre Wangen und tropften von ihrer Nasenspitze.
Es war die Stimme von Mrs Peters, die sie aus ihrem stillen Betrachten der Trümmer riss.
»Gott sei Dank!«, rief sie aufgelöst und kam dann zu ihnen gelaufen. Lillian wandte sich um, sah aus tränenfeuchten Augen zunächst in Henares Gesicht, dann blickte sie über die Schulter zu Mrs Peters. Auch die Nachbarin war über und über mit Staub bedeckt, schien außer einem kleinen Kratzer an der Wange aber nichts abbekommen zu haben.
»Gott sei Dank!«, wiederholte sie, als sie keuchend vor ihnen stand. »Ich hatte schon befürchtet, es hätte Sie auch erwischt.«
Lillian wollte etwas dazu sagen, konnte es aber nicht. Mrs Peters stand eindeutig unter Schock, kein Wunder nach dem, was geschehen war.
»Wo ist Ihr Großvater?«, fragte Mrs Peters, als sich Henare umwandte. Verwirrt blickte sie zwischen dem Maori und Lillian umher, bis sie schließlich begriff.
»O nein!«, presste sie hervor und hielt sich die Hand vor den Mund. Unter den Schmutzschlieren wurde ihre Haut ganz bleich. »Sind Sie sicher?«
»Er ist kurz vor dem Erdstoß gestorben. Es ging ihm heute Morgen schon sehr schlecht.«
Ehe Lillian es verhindern konnte, zog Mrs Peters sie in ihre Arme. Seltsamerweise ging von der nach Lavendel duftenden Frau so etwas wie Trost aus.
»Es war Gottes Wille«, sagte sie leise. »Er war gnädig mit ihm, dass er ihn zu sich genommen hat, bevor hier die Hölle losbrach.«
Lillian nickte und ließ zu, dass sie sie noch eine ganze Weile festhielt. Inzwischen kamen andere Leute herbei, staubbedeckte Gestalten, die ebenfalls ihre Häuser verloren hatten. Die meisten von ihnen schienen ihre Familien rechtzeitig nach draußen bekommen zu haben, jene, deren Angehörige zum Zeitpunkt des Erdbebens gerade in der Stadt gewesen waren, liefen los, um sie zu suchen.
»Wir sollten in die Innenstadt gehen, nachsehen, wie schlimm es geworden ist«, schlug Lillian vor, denn das erschien ihr in diesem Augenblick genau richtig. Ihrem Großvater konnte niemand mehr helfen, aber vielleicht brauchten andere Leute ihre Hilfe. Außerdem musste sie herausfinden, was mit Mrs Blake und Samantha geschehen war.
»Meinst du wirklich?«, fragte Henare zweifelnd. »Nach allem, was geschehen ist?«
»Wir brauchen Hilfe, um Großvater unter den Trümmern hervorzuholen«, entgegnete sie. »Dieses Haus soll nicht sein Grab werden.« Und dann war es mit Lillians Beherrschung vorbei. Schluchzend warf sie sich gegen Henare und weinte dann hemmungslos in seinem Arm.
»Keine Sorge, das Haus wird nicht sein Grab. Ihm soll alle Ehre zuteil werden.«
Die Stadt sah grauenhaft aus. Viele kleinere Häuser waren zwar verschont geblieben, doch die meisten größeren hatten schwere Schäden erlitten. Überall irrten Leute umher, entweder auf der Suche nach ihren Angehörigen oder weil sie helfen wollten. Einige Menschen scharten sich um Schwerverletzte, die aus ihren Häusern geborgen wurden, einige Frauen versorgten die Wunden von Verletzten, die neben den Trümmern auf der Straße saßen.
»Ich werde ein paar Männer suchen, die mir helfen, deinen Großvater zu bergen«, sagte Henare leise.
»Vielleicht solltest du ihnen erst einmal helfen, die Überlebenden zu bergen«, entgegnete Lillian, während sie die Arme um ihre Schultern schlang. »Sie brauchen die Hilfe mehr als Großvater.« Henare nickte, und in seinem Blick sah sie, dass er der gleichen Meinung war wie sie. »Ich werde mich derweil bei den anderen nützlich machen.«
Henare nickte, legte dann kurz eine Hand auf ihre Schulter und eilte die Straße entlang. Lillian gesellte sich zu einigen Frauen, die gerade dabei waren, Verletzte zu versorgen. Keine nahm zunächst Notiz von ihr. Eine von ihnen, die auch bei dem Ball gewesen war, verband einem alten Mann den Kopf. Bei seinem Anblick verlor Lillian beinahe wieder die Beherrschung, denn sie musste an ihren Großvater denken.
Bevor sie in Tränen ausbrach, wandte sie sich rasch um und sah ein paar Männer mit Spitzhacken und Schaufeln die Straße entlangeilen. Offenbar war weiter nördlich jemand von seinem Haus verschüttet worden. Samantha!, schoss es Lillian durch den Kopf. War sie verletzt? Und was war mit ihrer Familie? Ihrem Haus …
»Miss Ehrenfels?«, fragte eine Frauenstimme hinter ihr. Als Lillian sich umwandte, erkannte die Mrs West, deren Kleid zerrissen und deren Haar vollkommen zerzaust war. Ihrer Schönheit tat das keinen Abbruch, und fast war es
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