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Der rote Norden - Roman

Der rote Norden - Roman

Titel: Der rote Norden - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Franzisika Haeny
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an Kaspar denken und daran, wie er sich fühlt, wenn er sieht, dass ich sein Konto geplündert habe. Ich denke lieber an Tante Sophie; ich will jetzt zu ihr fahren. Doch wie ich an einem Reisebüro vorbeifahre, »Reisen – aktuell« heisst es, kommt mir die Eingebung, dass ich den nächsten Punkt auch noch heute von der Liste streichen könnte, ich parke den Wagen und trete ein. Es ist recht dunkel in dem kleinen Raum. Ein müde aussehender älterer Mann bedient ein junges Paar, das einen günstigen Badeurlaub buchen will. Dann bin ich dran. Ich sage ihm, dass ich nach Imalo fliegen muss. Er nickt. Er sucht. Er findet. Er fragt nach dem Datum der Rückreise. Ich weiss das Datum nicht, aber das kann und darf ich nicht sagen. »Sophie, das ist ein Spiel«, sagt mein Herz erneut, und ich teile dem Mann mit, dass mein Aufenthalt in Imalo eine Woche dauern wird. Ist das wirklich ein Spiel? Er druckt mir jedenfalls ein Blatt Papier aus, das er als E -Ticket bezeichnet – Kaspar hat immer richtige Flugbillets bekommen –, und ich nehme dieses Blatt an mich und bezahle in bar. Er bemerkt, dass ich dem E -ticket nicht richtig traue, und versichert mir, dass es viel praktischer sei als ein Flugbillet. Das E -ticket wird mir ersetzt, wenn ich es verliere, sagt er, das Flugbillet nicht. Ich bedanke mich für den Hinweis und verlasse den Raum. Im Hinausgehen sehe ich, dass er das Licht anmacht.

9.
    Ich parke den Wagen vor dem Haus der Tante. Ich klingle. Es öffnet niemand. Fünfmal klingle ich, vergeblich. Dann schlage ich mit der flachen Hand gegen die alte Holztüre. Der Schlag tut mir weh, er tönt nicht sonderlich laut – und erreicht nichts. Was nun? Um sechs Uhr kommt der Mann, der ein Assessment durchführen will. Und ich … ich wollte eigentlich hier übernachten. Schliesslich gehe ich zum Mercedes zurück und fahre zum Bahnhof von Schieren. Dort wird es Telefonkabinen geben, wie ich annehme. Ich rufe die Tante an.
    Sie nimmt ab. Sie hat geschlafen, sagt sie. Es tut ihr so leid, dass sie mich nicht gehört hat. Ich fahre zurück zu ihrem Haus. Jetzt öffnet sie. Wie gestern äugt sie aus dem Dunkeln über die Kette hinweg. Sie erkennt mich. Sie macht die Türe auf.
    Sie entschuldigt sich immer wieder dafür, dass sie mich nicht gehört hat. Ich nehme ihre Hände in meine Hände und versichere ihr, dass das nichts macht, dass die Hauptsache ist, dass ich jetzt hier bin. Ihre Hände sind mager und kalt, ihre Finger etwas verkrümmt. Vielleicht ist ihr kalt, denke ich, weil sie nichts gegessen hat. (Erst jetzt merke ich, dass auch ich heute kaum etwas gegessen habe.) Wir gehen zusammen in die Küche. Ich frage sie, was sie denn heute gegessen habe, und sie sagt, sie habe sich ein Konfitürebrot gemacht.
    Ich öffne den Kühlschrank. Er ist leer – bis auf Butter und Konfitüre. Das ist wenig. Es klingelt. Ich führe die Tante ins Wohnzimmer und setze sie auf einen der mit Nägeln beschlagenen Stühle. Mein Blick fällt auf ihre Füsse, die unbeschuht sind. Sicher friert sie auch an den Füssen, denke ich. »Hast du denn keine Pantoffeln?«, frage ich. Und sie sagt mit ernstem Gesicht: »Denk nur, Sophie, meine Pantoffeln sind mir gestohlen worden.«
    Ich öffne die Haustüre. Jetzt bin ich die Person, die über die Kette hinweg ins Helle blickt. Ein recht junger Mann steht draussen, der von »Home Care« redet; er spricht den Begriff allerdings mit weniger ausgeprägt englischem Akzent aus als die Dame, von der ich ihn zum ersten Mal gehört habe. Ich nicke und löse die Kette.
    »Wer ist da?«, ruft Tante Sophie aus dem Wohnzimmer. Sie ist misstrauisch. Alle drei sind wir nun im Wohnzimmer, und ich nehme ihre Hand und sage ihr langsam, dass wir beide und dieser Herr gemeinsam herausfinden wollen, wie man ihr helfen könne. Die Tante runzelt ihre Stirne und presst die Lippen zusammen. Sie sagt: »Ich brauche keine Hilfe. Ich komme gut zurecht.« Aber der Mann, der da am Tisch sitzt, lässt sich nicht abhalten. Er hat eine mehrseitige Liste vor sich und will die mit uns durchgehen. Er stellt viele Fragen. Braucht die Tante Hilfe beim Einkaufen? Beim Kochen? Beim Putzen? Beim Waschen? Beim Sich-selber-Waschen? Seine Organisation bringt auch fertig gekochte Mahlzeiten ins Haus. Ist die Tante Vegetarierin? Gibt es Gemüse, das sie nicht mag? Mag sie Fisch? Es sind sehr viele Fragen, die beantwortet werden müssen, manchmal gelingt es erst im zweiten Anlauf, eine Antwort zu finden. Nach einer Dreiviertelstunde ist er

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