Der rote Norden - Roman
damit, in der altertümlichen Waschmaschine, die im Keller ihres Hauses steht, zu waschen. Etwas Wäsche von mir, sehr viel Wäsche der Tante, die überall (vor allem aber im Zimmer, in dem sie jetzt schläft, dem ehemaligen Arbeitszimmer des Grossvaters) herumliegt. Ich bereite die Götterspeise zu, setze die Schüssel, damit sie abkühlt in den Kühlschrank, hänge die Wäsche auf, beginne mit dem Kochen der Spaghettisauce. Die Tante ist erstaunt über meinen Eifer, sie folgt mir durch das Haus und beobachtet mein Tun. Sie scheint mir zufrieden zu sein, ihre Hände sind wärmer als gestern.
Nachdem wir zusammen gegessen und das verschmutzte Geschirr abgewaschen haben, verlasse ich das Haus noch einmal. Ich verspreche der Tante, bald wieder zurück zu sein, und nehme den Hausschlüssel mit, damit sie, wie gewohnt, zu Bett gehen kann. Ich fahre nach Zürich zurück und parke den Mercedes in einem der grossen Parkhäuser im Zentrum. In einem nahen Café bestelle ich mir wieder einen Espresso. Ich lege den wattierten Umschlag neben die kleine Tasse. Ich schreibe mit grossen gerundeten Blockbuchstaben Kaspars Adresse auf den Umschlag. Wie eigenartig! Ich schreibe diese Wörter und Zahlen auf den Umschlag – und sie bedeuten nicht mehr dasselbe wie früher. Bislang habe ich, wenn ich die Adresse, wenn ich Kaspars Namen geschrieben habe, den Raum von innen gesehen, und Kaspar war Teil dieses Raumes. Jetzt sehe ich das Gebäude von aussen. Er ist irgendwo drinnen, er kann nicht herauskommen, er kommt nicht heraus. Es ist merkwürdig. Ich beklebe den Umschlag mit Briefmarken, die ich mir von der Tante erbeten habe. Und jetzt – das ist das Spiel – schiebe ich folgende Dinge in den Umschlag:
den Autoschlüssel
den Parkschein
die Kreditkarte und die beiden Bankkarten.
(Ich habe noch heute mit dieser Kreditkarte eingekauft. Ich habe den kleinen Koffer und alles andere, was morgen in dem kleinen Koffer liegen wird, mit dieser Kreditkarte bezahlt …)
Ich verschliesse den Briefumschlag, wenig später lasse ich ihn beim Parkhaus in einen Briefkasten fallen.
Und dann fahre ich mit dem Bus heim zu Tante Sophie.
11.
Nach Imalo gibt es keine direkten Flüge.
Ich sitze in einem grossen Flugzeug am Fenster; die beiden Plätze neben mir sind leer, das Flugzeug rast plötzlich laut los, steigt auf und unter mir sehe ich graue, von Dunst überdeckte Waldstücke, Häuserflecken. Dann verschwindet alles im Nebel und wir befinden uns zwischen Wolken.
Das Flugzeug steigt weiter und ich schliesse die Augen. Ich bin auf dem Weg in den Roten Norden, zu Martin. Und Martin braucht mich. Merkwürdig, kaum habe ich mich von dem Haus, in dem ich fast drei Jahrzehnte gewohnt habe, entfernt, braucht mich jemand. Tante Sophie hat mich gebraucht, und Martin sagt, dass er mich braucht. Das Flugzeug brummt sehr laut. Ich bin müde. Das monotone Geräusch schläfert mich ein. Einmal öffne ich die Augen – es tönt irgendwie anders als bisher – und sehe, dass die uniformierten Damen (ich weiss, dass sie offiziell
Flight Attendants
heissen, denn meine Coiffeuse, die früher in diesem Beruf gearbeitet hat, erzählt immer gerne von diesem Lebensabschnitt, während sie Haare schneidet) … dass also diese Damen Mittagessen verteilen. Seltsamerweise tragen sie Handschuhe bei der Arbeit. Ich esse brav das verteilte Essen (Kartoffelbrei und Hackfleischbällchen) und schlafe anschliessend ein.
Ich erwache. Unten ist Wald, nichts als Wald, und dazwischen liegen schiefergraue Seen. Das Flugzeug ist im Sinkflug. Nach der Landung ziehen wir im Gänsemarsch an den
Flight Attendants
vorbei, die uns »Auf Wiedersehen« sagen. Und dann bin ich im Umsteigeflughafen. Ich stehe kurz in einer Schlange vor einem Schalter, an dem »
All Passports
« angeschrieben steht, und zeige meine Identitätskarte einem uniformierten Herrn, der bereitwillig nickt. Es ist alles so einfach. Warum habe ich Kaspar geglaubt, der immer wieder gesagt hat, Reisen zu organisieren und reisen überhaupt, das sei zeitaufwendig und schwierig?
An einer Bar trinke ich einen Espresso. Unter einer »Bar« habe ich mir zwar etwas anderes vorgestellt. Wörter verändern anscheinend ihre Bedeutung. Ich sitze auf einem Plastikstuhl an einem Plastiktisch und nippe an einem süssen, rasch kalt gewordenen Kaffee (der hier in einem Mini-Glasbecher serviert wird). Ich denke darüber nach, dass Wörter ihre Bedeutung verändern, und ich sehe, dass das wirklich so ist. »Reise« hatte bislang die
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