Der rote Norden - Roman
fertig. Er packt seine Unterlagen ein und erklärt, am Montag werde eine Mitarbeiterin vorbeikommen und auch eine warme Mahlzeit mitbringen. Sie wird um zwei Uhr da sei, weil die Tante am Vormittag schläft, wie sie sagt. Ich begleite ihn zur Türe und sage ihm, dass man die Tante, falls sie auch um zwei Uhr noch schläft, anrufen muss. Er sagt, dass seine Mitarbeiterinnen alle ein Handy haben.
Sie steht hinter mir. Ich habe den Eindruck, dass sie friert und dass sie nicht merkt, dass sie friert.
»Ich gehe einkaufen, Tante Sophie«, sage ich. »Und dann werden wir zusammen essen. Und ich würde heute gerne bei dir übernachten. Oben, in deinem alten Zimmer.«
Sie schaut mich aufmerksam an: »Hast du denn kein Zuhause?«, fragt sie.
Ich weiche einer Antwort auf diese Frage aus, indem ich sage: »Ich habe doch schon früher hier übernachtet, Tante Sophie. Mit« (ich schlucke) »mit Leonie.«
»Mit Leonie?«, fragt sie. Und dann lächelt sie. Sie erinnert sich. »Das ist lange her«, sagt sie, und das Lächeln bleibt auf ihrem Gesicht.
Während ich zur nächsten Tankstelle fahre (seit einigen Jahren kann man in Tankstellen Tag und Nacht einkaufen), denke ich über die Frage der Tante nach, ob ich kein Zuhause hätte. Ich habe in einem bestimmten Haus – in dem ich jeden Winkel kenne – fast dreissig Jahre gelebt und ich bin davon ausgegangen, dass ich immer dort leben würde. Ist das kein Zuhause? Und die Tante lebt in ihrem Haus. Sie hat ein ganzes Leben (mit einer Unterbrechung von vielleicht vier Jahren) darin gewohnt. Es wäre nicht richtig, wenn dieses Haus nicht ihr Zuhause wäre. Das Wissen darum, wie es wirklich ist, erbittert mich. Die Tante lebt im Dunkeln, im Kalten, bei den Fruchtfliegen, hinter der Kette. Ihre Pantoffeln sind ihr gestohlen worden. Und sie kann nichts ändern.
10.
Ich will Tante Sophie wecken, wenn ich den Frühstückstisch gedeckt habe. Ich habe gestern in der Tankstelle auch Honig gekauft und Schinken, Brötchen zum Aufbacken und Milch und Schokoladenpulver und Rahm, falls sie lieber heisse Schokolade hätte, statt des Kaffees. Aber wie der Tisch mit allem gedeckt ist, steht die Tante in der Türe zum Wohnzimmer. Sie ist bereits angezogen. Sie freut sich.
Nachdem wir ausgiebig gefrühstückt haben, verspreche ich ihr, heute Abend ein schönes Essen für sie zu kochen, sie kann wünschen, was sie gerne hätte. Sie wünscht sich Spaghetti und Götterspeise. Ich weiss, was Götterspeise ist, weil Kaspar, als wir jung verheiratet waren, so lange die Götterspeise seiner Mutter gelobt hat, bis ich sie so zubereitet habe, dass er zufrieden war. Ich weiss nur nicht, ob die Tante denselben Geschmack hat wie Kaspars Mutter.
Wir machen den Abwasch zusammen. Die Tante trocknet das Geschirr ab, das ich wasche. Ihre Hände zittern etwas, wenn sie ein Tässchen entgegennimmt.
Dann fahre ich in die Stadt.
Es sind jetzt nur noch zwei Punkte auf dem Notizblock. Ich parkiere den Wagen in der Tiefgarage eines grossen Kaufhauses. Ich kaufe mir einen kleinen Koffer für die Reise nach Imalo. Man kann ihn auf Rollen ziehen, er wird mit einem Reissverschluss geschlossen. Ich kaufe mir Unterwäsche, eine zweite Hose, ein zweites Paar Schuhe, einen leichten Pullover und eine Bluse. (Wie ist das Wetter in Imalo? Ich habe noch keine Zeit gehabt, mich darüber zu informieren. Immerhin hat Martin ja vom »Roten Norden« gesprochen; »Norden«, das tönt nach Kälte.) Ich kaufe mir ein hübsches blaues Necessaire und fülle es mit Fläschchen und Tuben; ich achte darauf, dass keines davon mehr als einen Deziliter Inhalt hat; ich will nur mit Handgepäck reisen.
Ganz oben auf dem Dach des Kaufhauses ist ein Restaurant. Ich setze mich dort hin, trinke einen Espresso; ich bin zufrieden. Ich kann einen weiteren Punkt abhaken. Der letzte Punkt allerdings ist noch unerledigt. Wie bewältige ich ihn? Ich hole mir noch einen weiteren Espresso. Ich erinnere mich, wie mein Herz gestern gesagt hat: »Es ist ein Spiel, Sophie.« Ein Spiel macht Spass. Diese letzte Aufgabe werde ich so erledigen, dass sie mir Spass macht. Bevor ich das Kaufhaus in Richtung Tiefgarage verlasse, kaufe ich mir in der Papeterieabteilung einen wattierten Briefumschlag.
Ich fahre zurück zur Tante. Unterwegs kaufe ich in einem Supermarkt noch Putzmittel, Waschpulver, einen Bügeltisch, ein neues Bügeleisen, die Zutaten fürs Abendessen. Und bei der Tante angekommen (sie öffnet mir gleich nach dem ersten Läuten), beginne ich umgehend
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