Der rote Norden - Roman
Bedeutung von »mühevoll«, das Wort erhält für mich eine neue Bedeutung: »einfach«, »leicht«. Ich stelle das Gläschen auf das Tablett, auf das man gebrauchtes Geschirr zu stellen hat, und gehe weiter. Die Reise ist leicht geworden, aber ich selber bin nicht leicht geworden, denke ich und lächle über mein Wortspiel, wobei ich Schritt für Schritt vorwärtsgehe und mein kleiner Koffer an meiner Hand hinter mir herrollt. Aber wenn ich leicht geworden wäre, hätte ich ja nicht meine Bedeutung geändert. Was für eigenartige Überlegungen. Oder hätte ich, wenn ich leicht wäre, eine neue Bedeutung?
Ich finde den Ausgang 31, von dem aus das Flugzeug nach Imalo starten wird, setze mich erneut in einen Plastikstuhl und nehme mir vor, mich nicht von da wegzubewegen, bis ich zum Flugzeug gehen kann (und das wird noch lange dauern). Warum verändere ich meine Bedeutung nicht, wenn ich leicht bin? Oder verändere ich sie doch? Ich will an Martin denken, der mich in Imalo erwartet.
In dreieinhalb Stunden – ich schaue auf die grosse Uhr an der Wand neben mir – werde ich Martin sehen. Ob er sich verändert hat? Ich spüre, wie mein Herz klopft, wenn ich an ihn denke. Ich möchte ihn mir vorstellen, aber ich sehe nur ein Bild, das ihn als kleinen Jungen zeigt, mit kurzen Hosen und Kniestrümpfen, er lehnt sich gegen eine Mauer und lächelt mit geschlossenem Mund. Ich habe das Bild von meinem Vater erbeten, bei einem Besuch. Es hat mich damals ergriffen; ich weiss nicht, warum. Martin steht da, an eine weisse Wand gelehnt und lächelt, ohne die Lippen zu öffnen. Ich sehe nur dieses Kinderbild vor mir, aber ich weiss, er ist fast schon ein alter Mann, er ist ja nur drei Jahre jünger als ich.
Ich stelle mir das Bild vor, das schwarzweisse Bild mit dem Kind, das den Fotografen mit dunklen Augen anschaut, ein Haarbüschel fällt ihm in die Stirne und es probiert ein Lächeln. Ich bin froh. Etwas Besseres hätte mir nie passieren können. Ich war sicher, er ist gestorben – und es stimmt nicht. Der Plastiksessel ist unbequem. Ich versuche, mein Kreuz mit beiden Händen zu stützen, drücke sie in die weiche Masse, links und rechts der Wirbelsäule, aber es hilft nicht viel. Ich möchte mir vorstellen, wie Martin jetzt aussehen könnte, doch es steigt kein Bild in mir auf, das ihn als Erwachsenen zeigt. Ich mustere die Menschen, die neben mir und mir gegenüber sitzen. Sie alle wollen nach Imalo fliegen, aber keiner und keine von ihnen hat einen Bruder, der gestorben ist und doch lebt!
Dann wird mein Flug aufgerufen. Obschon ich rasch aufstehe, bildet sich so schnell eine Schlange, dass ich hinten anstehen muss und keinen Fensterplatz mehr bekomme. Denn im Flugzeug nach Imalo liest man seinen Platz selber aus, es gibt keine Platznummer auf dem Flugticket. Neben mir sitzen zwei Männer in karierten Flanellhemden, sie haben stets die Arme über der Brust verschränkt. Nur einmal bestellt der eine bei der jungen Frau mit den Handschuhen zwei kleine Weinflaschen, die er dann nacheinander austrinkt, natürlich nicht direkt, sondern indem er den Wein erst in einen Plastikbecher, den er auch bekommen hat, giesst. Der andere, der neben mir, löst die vor der Brust gekreuzten Arme nie. Ich schaue ab und zu ein bisschen nach links zu den beiden Männern, die in ihren Holzfällerhemden einander seltsam ähnlich sind, und da springt mir jäh der Gedanke in den Kopf: Was, wenn Martin gar nicht in Imalo auf mich wartet? Ich balle meine rechte Hand zu einer Faust. Das Flugzeug dröhnt, die Sonne, die durch die kleinen Fenster von links hereinflutet, macht es ganz hell. Ich schaue auf meine Faust und rekapituliere:
Ich bin von dem Haus, in dem ich fast dreissig Jahre lang existiert habe, weggegangen, und jetzt bin ich auf dem Weg nach Imalo, ich werde in Kürze da sein – vor drei Tagen habe ich überhaupt noch nicht gewusst, dass es einen Ort namens Imalo gibt. Martin wartet dort auf mich. Martin lebt. Er wartet dort. Ich drücke mit den vier Fingern den Daumen. Er lebt und er wartet.
Und dann setzt das Flugzeug holpernd auf der schwarzen Piste auf. Und dann bin ich draussen auf der Piste, der dunkelgraue Himmel ist aufgerissen und die Sonne beleuchtet den Platz. Und dann bin ich in dem kleinen Raum mit dem Förderband, aber ich muss da ja nicht warten, ich habe ja kein Gepäck, das erst aus dem Bauch des Flugzeugs geholt werden muss, ich gehe am Förderband vorbei, ich ziehe den kleinen Koffer hinter mir her, so schnell als
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