Der rote Norden - Roman
möglich auf den Ausgang zu. Die Türe gleitet auf, eine Glastüre, ich mache zwei Schritte vorwärts, ich blinzle – und da steht Martin. Er steht wirklich da. Ich lasse den Griff, den ich halte, los und umarme ihn. Ich drücke meinen Kopf gegen seine Schulter, gegen eine schwarze Regenjacke. Ich spüre ihn. Er ist da. »Martin?«, sage ich und schaue zu ihm hoch.
»Ja?«, fragt er.
Ich kann doch nicht sagen: »Du bist doch tot!« oder etwas Ähnliches.
Er ist da und er ist Martin. Er deutet auf ein silbergraues Auto, einen Kleinwagen, der auf dem Flughafenparkplatz steht. Wir gehen zu dem Auto. Die ganze Zeit klopft mir heftig mein Herz. Martin legt meinen Koffer auf den Rücksitz, öffnet mir die Beifahrertüre, ich steige ein, er steigt auf seiner Seite ein. Ich sage noch zweimal: »Martin!«. Er blickt mich mit seinen dunkelbraunen Augen an, ich erinnere mich an das Kinderbild, er lächelt wie damals mit geschlossenen Lippen. Er hat einen ganz kurzen Stoppelbart auf den Wangen. Ich berühre seine Hand auf dem Schalthebel, sie ist warm.
»Wir fahren zum Hotel«, sagt er »du hast ja doch eine lange Reise hinter dir.«
Wie ist das alles nur möglich, denke ich, aber ich bin so froh, dass ich die Strasse vor uns gar nicht richtig wahrnehme, sie verschwimmt vor den Augen, und ich suche in der Handtasche auf meinem Schoss nach einem Papiertaschentuch, und ich wische mir die Augen und sehe nach links und erkenne, Martin ist immer noch da.
Als wir auf dem Hotelparkplatz ankommen, ist der Himmel azurblau. Und als ich in dem Zimmer, das Martin gemietet hat, zum Fenster hinausschaue, ist vor dem Fenster ein Fluss mit dünnen Birken am Ufer, und auch die sonst weissen Stämme der Bäume sind blau. Ich drehe mich um und schaue Martin an, er hebt sich durch das Licht, das zum Fenster hereinfällt, etwas aus dem dunklen Zimmer heraus. »Und jetzt?«, frage ich.
»Jetzt gehen wir essen«, sagt der helle Fleck – sein Gesicht.
Wir sitzen beim Essen. Wir sitzen am Fenster des Speisesaals, es ist Nacht. Jemand hat eine Kerze auf dem Tisch angezündet, ich esse irgendetwas, und schaue beständig ins Gesicht meines kleinen Bruders. Ich hätte ihn gern gefragt, wie das ist, am Leben zu sein, obwohl doch seine Todesanzeige erschienen ist, aber ich sage nichts. Er sagt wenig, er schaut mich an und ist offenbar zufrieden, dass ich da bin. Über uns sind ausgestopfte Vögel mit ausgestreckten Flügeln aufgehängt; es sind Möwen; da sie an verschiedenen Drähten hängen, bewegen sie sich immer. Martin spricht eigentlich nur über das Essen, und er fragt, wie meine Reise war. Er hat roten Wein bestellt, und wir sitzen uns gegenüber, die Teller sind jetzt weggeräumt; die Weingläser stehen noch da und die halbleere Flasche. Da bringe ich schliesslich den Mut auf und frage ihn: »Warum … warum habe ich herkommen müssen? Warum hast du mich herbestellt?«
Er blickt mich kurz an, das Licht der dicken Kerze, die auf unserem Tisch steht, erhellt die eine Seite seines Gesichtes. Dann schaut er wieder vor sich hin. »Ich muss hier etwas erledigen. Und du kannst mir dabei helfen. Du hast mir doch immer geholfen.«
So ungefähr – abgesehen vom letzten Satz – hat er das schon am Telefon gesagt. Die Möwen über uns mit ihren weit ausgespannten Flügeln treiben dahin. Irgendwo hinten im Raum, dort, wo das Buffet ist, gibt es Licht, so werden sie nicht nur durch unsere eine Kerze sichtbar gemacht.
»Habe ich dir immer geholfen?«, frage ich.
»Ja«, sagt er. »Das ist das Bild, das ich von dir habe. Sophie hilft. Sophie kann immer helfen.« Dabei sieht er mich kurz an. Viele tausend Kilometer entfernt ist mein Ehemann, der nie meine Hilfe wollte, der nichts von mir hält, und dort ist auch meine Tochter, der ich nicht habe helfen können, die, wie sie beiläufig erwähnt hat, bei einer Psychologin Hilfe sucht. Aber da, an diesem Tisch, ist Martin, und er sagt, dass ich ihm helfen kann. Sein Gesicht wirkt bedrückt, aber vielleicht liegt das an der Beleuchtung durch die Kerze.
Ich bin dankbar, dass er da ist. Wenn ich ihn jetzt weiter frage, kriege ich gewiss keine vernünftige Auskunft. Ich trinke den warm gewordenen, etwas bitteren Wein, den er nachgefüllt hat. Ich setze das Glas hin, und Martin schenkt nach. Ich fange plötzlich an zu reden, und ich erzähle vom Delfin, den er mir geschenkt hat, das heisst, ich habe ihn ja selber fotografiert, aber ohne Martins Geschenk wäre der Delfin vergessen worden. So hat er neben dem
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