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Der rote Norden - Roman

Der rote Norden - Roman

Titel: Der rote Norden - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Franzisika Haeny
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viel gegessen habe, und ich wehre ab.

13.
    Nachher liegen wir im Dunkeln in zwei grossen Betten, die nebeneinander stehen. Die Lamellen der Jalousien vor dem Fenster sind schräg gestellt, so dringt blasses Licht ins Zimmer. Ich schliesse die Augen und sehe den schwarzen Mann auf dem schwarzen Boot in dem glänzenden rosa Wasser. Dann erkenne ich eine andere Gestalt in einem glänzenden rosafarbenen Ballettkleid. Ich wende den Kopf. Das Kopfkissen ist unbequem. »Martin«, sage ich, »denkst du auch manchmal an Leonie?«
    Ich höre, wie er sich räuspert. Dann räuspert er sich ein zweites Mal. Und ein drittes Mal. Ich habe die Augen immer noch geschlossen. Schliesslich sagt er langsam: »Nein …«, eine Pause. »Ich«, eine Pause, »kann mich nicht an sie erinnern. Ich erinnere mich an eure Reaktion auf ihren Tod. Das weiss ich noch gut.« Es folgt eine längere Pause, ich warte. »Ich habe mir später gesagt, wenn ein grosser Stein in den See geworfen wird, entstehen Wellen – ich habe nur die Wellen wahrgenommen; ich bin zu klein gewesen, um den Stein wahrzunehmen; ich weiss nur, was du, was Mama, was Papa von Leonie erzählt haben.« Ich höre ihn seufzen. »Komm, Sophie, wir haben dieses Gespräch doch auch vor vielen Jahren schon geführt.« Das ist seine Art zu sagen, dass ich das Thema wechseln soll. Aber ich gebe nicht nach.
    »Martin, wenn jemand stirbt und nachher denkt niemand mehr an ihn, ist das nicht furchtbar? Sie war doch noch so klein, Martin.« Zum ersten Mal erscheint mir Leonie als ein kleines Mädchen. Ich wende den Kopf erneut. Sie ist nicht mehr die grosse Schwester. Ich sehe sie deutlich vor mir in ihrem Tüllkleid. Sie lächelt nicht, sie sieht traurig drein. »Martin!«
    »Ist das nicht bei uns allen so?« fragt er. »Man stirbt, und keiner denkt an einen.«
    Was soll ich dazu sagen? Ich kann ja nicht so etwas Vorgeprägtes sagen wie »Die, die einen lieben, werden immer an uns denken.« Ich habe ja nicht deshalb an Leonie gedacht, weil ich sie geliebt habe. Habe ich sie nicht geliebt? Ich höre Martin sagen: »Man lebt, und keiner denkt an einen.«
    Das tönt furchtbar. Ich setze mich mühsam im Bett auf. Ich sage: »Das stimmt nicht!«
    »Warum nicht?«
    Ich habe jetzt die Augen geöffnet und sehe sein Gesicht rechts von mir, sehe es als einen hellen Fleck.
    »Ich habe doch immer an dich gedacht, Martin! Und du hast auch an mich gedacht! Du hast mir doch immer zum Geburtstag eine Karte geschickt!«
    »Und du hast mir auch eine Karte geschickt.«
    Das stimmt. Diese Karten zu schreiben, war eine Qual. Ich sitze am rechteckigen Wohnzimmertisch und weiss nicht, was ich schreiben soll. Als Violet noch klein war, habe ich immer noch ein Bild von ihr in den Umschlag gelegt, auf dessen Rückseite zwei oder drei Sätze standen, die ihre Fortschritte beschrieben:
Violet kann schon vier Schritte gehen. … Violet kann schon ganz gut lesen. … Violet hat die Aufnahmeprüfung ins Gymnasium bestanden
. Was soll man schreiben?
Mir geht es gut. Ich hoffe, dass es dir auch gut geht
, habe ich geschrieben, und schon diese Sätze waren mühevoll. Ich schnaufe hörbar und sage: »Du meinst, ich habe nie an dich gedacht?«
    »Ach komm!«, sagt Martin.
    Ich finde nicht den richtigen Satz, der dieses furchtbare …
und keiner denkt an einen
aufhebt. Da höre ich ihn sagen: »Es ist auch nicht wichtig, ob jemand an mich denkt.«
    »Martin, warum sagst du so etwas?«
    Jetzt tönt seine Stimme ruhiger: »Ich glaube das wirklich.«
    »Was glaubst du?«
    Wieder dieser ruhige Ton: »Ich glaube, ich muss mit mir einverstanden sein. Mehr ist wohl nicht nötig.« Er verbessert sich: »Mehr ist nicht nötig.«
    »Und wenn du mit dir einverstanden bist, dann spielt es keine Rolle, ob dich jemand gernhat oder ob dich niemand gernhat?«
    Er sagt nichts.
    »Martin?«
    Er seufzt. »Dann sag doch du, wie du es siehst, Sophie, sag du es doch!«
    Was soll ich sagen? Bilder und Sätze gehen mir durch den Kopf: Violet, als ich sie zum letzten Mal gesehen habe, eine hagere junge Frau, Leonie in ihrem Tüllkleid. »Liebe besiegt alles«, »Die Liebe ist für den Menschen absolut notwendig«, »Was ist denn ein Mensch ohne Liebe?« Lauter solche Sätze sind anscheinend in meinem Kopf gespeichert, aber ich spreche sie nicht aus, weil sie offenbar nicht stimmen, das heisst, sie stimmen schon, sie stimmen immer, aber ich merke, sie stimmen nicht für mich, für mich haben sie nie gestimmt, und offenbar stimmen sie auch nicht für

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