Der rote Norden - Roman
Zellophanbeutel mit Mandeln sind drin. Ich weiss. Er war wohl zehn, als er gesagt hat: »Wenn wir gross sind, Sophie, essen wir einmal zusammen so viele Bananen und Mandeln, wie wir wollen!« Ich habe als Kind so gerne Mandeln gehabt, aber aus irgendwelchen Gründen durfte ich nie mehr als fünf Mandeln pro Tag essen. Nun liegen hier diese vielen Mandelbeutel vor uns. Martin schaut mich beständig abwartend an.
Ich fühle Tränen hochsteigen. Die Bananen und die Mandeln. Man kann, was man nicht erreicht hat, nachholen. Ich öffne einen der Zellophanbeutel, schütte Mandeln in die offene linke Hand und setze mich neben Martin an den Tisch. Er bricht eine Banane von einer der Stauden und schält ihre Spitze. Nichts, was verloren ist, ist in Wahrheit verloren … Ich lächle und sage: »Danke, Martin.«
Wir sitzen da in unseren warmen Jacken, wir essen, und der See funkelt in der weissen Sonne.
Später fahren wir weiter. Jetzt fahre ich, Martin sitzt neben mir. All die Jahre bin ich nie gefahren, wenn Kaspar dabei war. Doch, einmal, ein einziges Mal, als er sich beim Skifahren verletzt hat. Ich fahre auf der hellen Strasse, zwischen den roten Bäumen, und ich weiss, der Himmel über mir ist blau. Manchmal führt die Strasse den See entlang, der jetzt nur blau ist, himmelblau, würde ich sagen, und ringsherum umrahmt von roten Birken. Der Rote Norden ist einschüchternd, weil er so anders ist, anders als alles, was ich je erlebt habe. Jetzt, wo ich hier bin, weiss ich … ja, was weiss ich überhaupt? Ich weiss, dass hier alle Bäume rot sind und der Himmel blau. Das reicht. Das muss reichen.
Die Strasse legt sich wie ein Band über die Landschaft, sie zeichnet jeden Buckel, jeden Hügel nach. Ein Schild mit einem vokalreichen Wort und der Anfügung »10 km« steht rechts. Martin sagt: »Da ist unser Hotel.« Ich fahre und fahre, und dann ist da das Hotel. Es ist weiss gestrichen und zweistöckig. Ich bringe unser Auto zum Stehen und zwänge mich hinaus. Gegenüber vom Hotel ist eine grosse Tankstelle mit einem Supermarkt. Martin hat seine Tasche und meinen Koffer aus dem Kofferraum geholt, ich schliesse das Auto ab.
Die Türe des Hotels ist offen, und so sehe ich einen dunklen grossen Raum, lange Bänke vor langen Tischen und Spielautomaten an den Wänden. Viele Leute sind hier; die meisten sind Männer. Sie sitzen auf den Bänken, sie trinken, einige von ihnen spielen an den Automaten, schauen angestrengt vor sich hin. Links steht ein Tresen, dahinter eine junge Frau mit schwarzen Haaren und kleinen goldenen Ohrringen. Martin redet englisch mit ihr und bekommt einen Zimmerschlüssel. Er öffnet eine weitere Türe, und dann sind wir in einem hellen Raum. Tische stehen da, die von je vier Stühlen umgeben sind. Der Raum erhält Licht von der mir gegenüberliegenden Fensterfront. Ich gehe aufs Fenster zu und sehe, dass das Hotel direkt am See liegt. »Schön!«
Auch das Zimmer, in dem wir übernachten werden, hat ein grosses Fenster zum See. Wir legen beide unsere Jacken ab und setzen uns in die zwei Polstersessel am Fenster. Martin sagt: »Das wäre die erste Etappe!« Sein Stoppelbart ist – das fällt mir erst jetzt auf – unten am Kinn weiss und rings um den Mund noch braun. Ich warte, dass er noch etwas sagt, aber er sagt nichts mehr. So gehe ich zum Wasserkocher, der unter dem Spiegel steht, fülle ihn im Bad mit Wasser und koche Tee für uns beide.
Beim Abendessen sitzen wir an der grossen Fensterfront und schauen in eine plastifizierte Speisekarte, die ein angespannt aussehender, schwarzhaariger Mann uns reicht. Die angebotenen Fleischgerichte sind vom Rentier. Warum isst man Rentiere? Aber zuhause isst man Kühe, da ist wohl kein Unterschied. Martin bestellt viel zu essen, und ich schliesse mich ihm an. Der See vor dem Fenster ist glänzend rosarot; seine Wellen schimmern pastellblau. Überall ist der See von diesem strahlenden Rosa, er reflektiert die abendliche Farbe des Himmels, an dem nur wenige graulila Wolken stehen. Schmale Wellenstreifen gleiten in unsere Richtung. Am andern Ufer, weit weg, wo sich die Bäume, die ihn begrenzen, spiegeln, ist der See nicht rosarot, dort hat er einen dunklen, rostigen Saum.
Ich führe den Suppenlöffel und nachher die Gabel zum Mund und schaue hinaus. Ein Boot mit einem Schiffer gleitet jetzt auf dem See; Boot und Mann sind schwarze Silhouetten. Martin fragt etwas, ich fahre zusammen. Aber er hat nur gefragt, ob ich noch etwas essen wolle. Mich dünkt, dass ich
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