Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der rote Norden - Roman

Der rote Norden - Roman

Titel: Der rote Norden - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Franzisika Haeny
Vom Netzwerk:
helfen können. Wird das, was damals schief wurde, weil ich Martin nicht helfen konnte, einfach gerade, indem ich ihm heute helfe? Geht das?
    Ich flüstere nun auch: »Du meinst, dass du schaffst, was immer du vorhast? Du meinst, dass wir es schaffen?«
    Ich höre ihn flüstern: »Ja, zusammen schaffen wir es.«
    »Dann ist es gut«, sage ich halblaut. »Dann bin ich froh. Wollen wir schlafen, Martin?« Ich nehme meine Hand von seinem Knie und lege mich zurück, ich schliesse die Augen, versuche das unbequeme Kissen irgendwie unter meinem Kopf zurechtzulegen.
    Ich höre, wie er sich ausstreckt, wie er sagt: »Schlaf gut, Sophie!« Bald atmet er gleichmässig. Ich kann noch nicht einschlafen. Ich habe soviel erlebt, heute. Die einzelnen Stationen des heutigen Tages gehen mir durch den Kopf, und ich muss an Leonie denken, die nie hat erwachsen werden können, und an Martin, der ein Mann geworden ist und ein Leben gelebt hat, und ich weiss, dass ich auch ein Leben gelebt habe. Schliesslich kommt mir der Mann in den Sinn, der von der Überführung aus Steine auf die Autobahn geworfen hat. Und irgendwann schlafe ich ein.

14.
    Wir frühstücken an einem der Tische an der grossen Fensterfront des Hotelrestaurants. Ich schaue kaum nach draussen. Ich denke über unser Gespräch gestern Nacht nach – ich denke eigentlich nicht; es steigt in mir hoch wie Luftblasen im Wasser. »Man stirbt und keiner denkt an einen.« – eine Luftblase. »Hat da unter deinem Bett auch ein Krokodil gelegen?« – eine grosse Luftblase. »Nichts, was verloren ist, ist in Wahrheit verloren«; eine Blase, die einen Zwilling hat, der ihr Gegenteil besagt. Ich habe gestern Nacht vor dem Einschlafen gedacht, wenn ich nur zurückkönnte und mich dort, im Damals, richtig verhalten und helfen könnte, dann käme alles in Ordnung, aber solche schiefen Gedanken sind mir nur vor dem Einschlafen möglich, wenn ich anfange, Stimmen zu hören, die nichts mit dem Zimmer, in dem ich liege, zu tun haben, wenn das, was ich erkenne, nicht mehr die Wirklichkeit und noch nicht der Traum ist.
    Martin sitzt mir gegenüber und isst, ohne aufzublicken, sauren Hering und Knäckebrot. Er hat einen Rasierapparat benutzt, der zwei Millimeter lange Stoppeln stehen lässt. Ich habe nicht gewusst, dass es so etwas gibt, aber da ich nie einem Mann beim Rasieren zugesehen habe ausser Kaspar, ist das ja nicht verwunderlich.
    Dann fahren wir. Martin fährt, ich schaue aus dem Fenster. Es sieht ähnlich aus wie gestern: Birken, die ihre schwarzen, mit roten Blättern besetzten Äste und Zweige leise bewegen. Alles rot. Und wir fahren weiter. Rechts hebt sich das Land, alles ist rot, es sind verschiedene Spielarten einer Farbe, dazwischen erkenne ich die dünnen weissen Stämme der Birken, die weiter weg stehen und die schwarzen Ästchen der nahen Bäume. Es ist kein richtiger Wald, denke ich, in einem Wald, wie ich ihn kenne, kann man spazierengehen. Die Bäume sind wohl drei Meter hoch und manchmal auch etwas höher. Rot stehen sie da, sie strecken ihre schwarzen Äste aus, die buschig beblättert sind. Rechts liegt der Hügelzug, voll mit diesen roten Birken. Manchmal wachsen sie aus dem nackten Fels heraus; dann sind sie spärlicher verteilt. Der Fels ist grau, gefleckt mit den Birken und dem roten Moos, auf dem sie stehen (vielleicht ist es auch gar kein Moos, ich fahre ja nur vorbei, ganz genau kann ich es nicht erkennen). Die Strasse schneidet sich durch die roten Birken hindurch (denn auch links der Strasse stehen die Bäume; nur dass das Gelände links nicht hügelig ansteigt, sondern flach, eher abschüssig ist).
    Nun hält Martin an. Es ist ein Rastplatz, wie es viele gibt; eine Weg-Schlaufe, die von der Strasse weg- und zu dieser zurückführt. Ein hölzerner Tisch steht da mit einer Bank dahinter, und in der Nähe ist ein braunes Holzhäuschen, ein Bio-Klo. Martin öffnet den Kofferraum des Wagens, holt die Bananenkiste, ich greife nach der Tüte mit den Mandeln und schliesse den Kofferraum. Wir sitzen zusammen und essen. Ich schaue auf seine linke Hand, die neben mir auf dem Tisch liegt, und diese Hand kenne ich. Mich dünkt, seine Hand sei weniger verändert als sein Gesicht, sie ist ein bisschen breiter geworden, die Adern auf dem Handrücken treten deutlicher hervor als damals.
    Einmal hören wir ein Auto. Es kommt aus der Richtung, in die wir fahren. Der Lärm schwillt an und verebbt wieder. Und jetzt höre ich noch etwas anderes. Weit weg ein Rauschen. Vielleicht

Weitere Kostenlose Bücher