Der rote Norden - Roman
ist es aber auch gar nicht weit weg, ich weiss, dass mein Gehör schlechter ist als früher. »Martin«, frage ich, »ist hier in der Nähe ein Fluss?«
Er nickt und weist mit dem Arm über die Strasse auf den zerzausten, roten Birkenwald.
»Kann ich hingehen?« frage ich.
Martin nickt. Ich stehe auf, berühre noch seine Hand, die auf dem Tisch liegt, schiebe mich durch das Kreissegment zwischen Strasse und Rastplatz, das mit niedrigen rotbeblätterten Birkenbüschen bewachsen ist und überquere die leere Autostrasse.
Gegenüber liegen am Strassenrand runde rote Felsbrocken. Sie sind über einen Meter lang und mit kreisförmigen grauen Flechten getupft. Sie liegen in den dunkelroten Preiselbeerstauden, die ich gestern schon gesehen habe. Ich steige über eines dieser Felsstücke und dann nochmals über eines und dann gehe ich auf den Fluss, den ich noch nicht sehen kann, zu. Zwischen spillerigen Birken, deren Ästchen sich eng berühren, dränge ich mich hindurch. Ich muss mich immer wieder bücken oder diese Äste zur Seite schieben. Die Beerenstauden mit den festen, ovalen Blättchen bedecken den Boden, der ganz rot ist. Der Fluss tönt immer lauter.
Dann sehe ich den Fluss. Ich sehe ihn durch die Bäume hindurch, und kurz darauf stehe ich auf einem Felsen, auf dem drei krumme rote Birken wachsen, und schaue nach unten. Der Fels unter meinen Füssen ist dunkel und nass. Ich stehe auf diesem Felsen, zwischen zwei dünnen Bäumen, und schaue auf den stark und laut dahinziehenden Fluss. Die Sonne scheint durch die roten Blätter, sie scheint auf den Felsen, auf mich, auf das blaue Wasser, das reissend und schnell über Felsblöcke, die aus dem Wasser ragen, strömt. Die blauen Wassermassen wölben sich an vielen Stellen über die ganze Breite des Flusses, die Wölbungen zerplatzen und das Wasser spritzt weiss hoch, dann wölbt es sich aufs Neue, und der grosse Druck zerbricht die milchglasfarbene Wasser-Wölbung und das weisse Wasser sprüht als Welle hoch, immer wieder, Minute für Minute, Tag für Tag, Jahr für Jahr.
Ich blicke lange auf den Fluss. Mir wird klar, dass ich zum ersten Mal einen Fluss sehe. Später versuche ich, nach unten, zum Wasser, zu kommen. Ich setze mich auf den Fels, rutsche nach unten, finde Halt, mache ein paar kleine Schritte vorwärts und stehe am Wasser. Eine ganz kleine Bucht, von drei groben Steinen umschlossen, liegt einen halben Meter unter meinen Füssen. Das Wasser ist hier schwarz und fast ruhig. Einige rote Birkenblätter, eiförmig mit feinen Zacken schwimmen auf dem schwarzen Wasser. Sie bewegen sich in sachten Bahnen. Ich setze mich auf den feuchten Stein und schaue ihnen zu.
Irgendwann kommt mir der Gedanke, dass ich zu Martin zurücksollte. Ich kehre um. Während ich mich erst mühsam am Stein, auf dem ich sitze, hochziehe und dann, zunächst auf allen Vieren, den Weg zur Felsplattform zurückfinde, von der aus ich den Fluss erblickt habe, fällt mir auf, wie ungehörig und untypisch es für mich ist, jemanden warten zu lassen. Immer bin ich pünktlich, meistens bin ich zu früh, noch nie hat jemand auf mich gewartet. Ich stehe da und schaue nochmals auf den vorwärts drängenden Fluss, ich überlege und merke, dass ich keine Angst davor habe, dass Martin auf mich warten muss. Eine merkwürdige Erfahrung ist das. Ich drehe mich um und gehe auf den Wald zu. Ich dränge mich vorwärts, durch die dünnen Bäume hindurch. Ich höre den Fluss hinter mir, aber plötzlich weiss ich nicht mehr, wo die Strasse ist. Rings um mich die dünnen Bäume mit ihren roten Blättern. Ich stolpere zweimal, fühle mich unsicher. Zum Fluss könnte ich zurückfinden, ich höre ihn ja beständig, doch wo ist die Strasse? Soll ich rufen? Aber würde mich Martin hören? Rings um mich, überall, sind Zweige mit roten Blättern. Ich beschliesse, zum Fluss zurückzugehen und finde nach kurzem Suchen die Stelle, an der ich vorhin gestanden habe. Ich überlege. Dann drehe ich mich wieder um und versuche, möglichst im rechten Winkel zum Fluss in den Wald hineinzukommen. Diesmal finde ich die Strasse – ich habe das Glück, dass ein Auto vorbeifährt, ich kann mich nach seinem Geräusch richten. Ich bin erleichtert. Die Raststelle, auf der das graue Auto in der Sonne glänzt, liegt etwa zweihundert Meter von mir entfernt. Ich gehe am Strassenrand in Richtung Rastplatz, ich komme zu den grossen roten, grau gefleckten Felsblöcken. Jetzt sehe ich, dass Martin neben dem Tisch steht. Er hält die Hand
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