Der rote Norden - Roman
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Ich sitze neben Martin im Auto.
Wir sind heute Morgen aufgestanden, haben gefrühstückt, und nach dem Frühstück hat mir Martin den Autoschlüssel gegeben; ich habe meinen kleinen Koffer und seine Sporttasche ins Auto gepackt, und er hat die Übernachtung bezahlt. (Beim Öffnen des Kofferraums habe ich gesehen, dass da ein grosser Bananenkarton und eine Kaufhaus-Plastiktüte liegen.) Und dann sind wir losgefahren.
Eine ganz normale Asphaltstrasse. Sie führt durch einen lichten Wald. Und dieser Wald ist rot. Ich staune. Und irgendwann sage ich: »Martin, halt doch an!« Er nickt stumm. Später wird rechts am Strassenrand mit einem Piktogramm eine Raststelle angezeigt. Er steuert den Wagen die Ausfahrt hinaus und bringt ihn zum Stehen. Ich öffne die Wagentüre und zwänge mich aus dem kleinen Auto. Ich stehe da und staune.
Es ist ein Birkenwald. Zumindest scheinen mir die dünnen, senkrechten, weissen Stämme so auszusehen wie Birkenstämme bei uns. Aber die Blätter – die Blätter dieser Bäume sind rot. Durch schwarze Ästchen miteinander verbunden – ein rotes Blättermeer, das sich kaum bewegt. Die hellen Birkenstämme heben sich vom roten Laub ab, das den Wald füllt. Und sie stehen da in meterhohen dunkelroten Stauden (sind das Stauden? Ich kenne mich so wenig aus), die den Waldboden bedecken. Ich gehe einen Schritt vom asphaltierten Parkplatz weg, gehe dort, wo der Asphalt abbricht und der Boden erdig ist, in den Wald. Da sind diese Stauden: eigentlich sind es lange Zweige, die mit lanzettförmigen purpurroten Blättern besetzt sind. Das Rot der Birken ist ein anderes: Es wendet sich sanft dem Farbton des Feuers zu.
Ich schaue. Alles ist rot. Sogar die Birkenstämme, soweit sie zu sehen sind und sich kein Schatten auf sie wirft, reflektieren das Licht rötlich. Es ist unfasslich. Martin hat am Telefon vom Roten Norden gesprochen. »Imalo im Roten Norden«, hat er gesagt. Ich habe mir nichts dabei gedacht. Ich bin ins Reisebüro gegangen, habe einen Flug nach Imalo bestellt und habe diesen Flug bezahlt.
Das also ist der Rote Norden, von dessen Existenz ich bisher nichts gewusst habe. Aber es gibt ihn sehr wohl. Er ist heftig. Ich schliesse die Augen und denke: »Die roten Bäume und Sträucher sind einfach da. Im Norden. Sie existieren einfach.« Dann öffne ich die Augen wieder. Der asphaltierte Fahrweg, auf dem Martin das Auto zum Stehen gebracht hat, macht eine Schlaufe. Sie führt von der Autostrasse wieder auf die Autostrasse. Zwischen der Strasse und dem Weg wachsen dicht gedrängt nur die purpurroten Stauden. Und auf der andern Seite des Fahrwegs steht der rote Wald. Ich gehe auf dem Weg ein paar Schritte vorwärts und dann wieder ein paar Schritte zurück. Das ist also der Rote Norden …
Ich gehe zum Wagen zurück und setze mich auf den Beifahrersitz. Martin sagt nichts. Es ist gut so. Aber vielleicht sollte ich etwas sagen. Ich verwerfe einige Formulierungen, und schliesslich sage ich: »Ich habe nicht gewusst, dass es das gibt!« Er nickt. Dann wirft er den Motor an. Wir fahren weiter. Wir fahren zur Strasse zurück. Sie führt durch der roten Wald.
Wir fahren.
Einmal überquert ein Rentier, braun, mit staksigen weissen Beinen und einem pelzigen Geweih, die Strasse.
Nach etwa zwei Stunden sagt Martin: »Da vorne gibt es einen Aussichtspunkt. Möchtest du es einmal von oben sehen?« »Gerne«, sage ich. Martin biegt rechts ab, folgt einem Schild, das in einer unverständlichen Sprache beschrieben ist. Der Weg führt steil nach oben zu einem hellen Parkplatz, auf dem ein einziges Auto parkiert ist. Wir stellen unser Auto ab und gehen einen schmalen Weg hoch; auf der rechten Seite steht ein hölzerner Verkaufsstand, in dem sich ein alter Mann befindet, der Eintrittskarten verkauft. Martin kauft zwei Karten und wir gehen weiter. Auf den Karten steht MUSEUM . Der Weg führt durch den roten Wald – hier ist der Boden mit grauen Flechten und kleinen roten Blättern bewachsen, die mich an Beeren erinnern, die ich mit Violet vor zwanzig Jahren gesammelt habe, Preiselbeeren, Heidelbeeren. Ganz eng am Boden wachsen diese Blättchen und sind tiefrot. Links ist ein altes, schwarzes Boot zu sehen, wahrscheinlich ist es Teil des Museums. Etwas später taucht rechterhand eine niedrige Hütte auf. Ich schaue durch die offene Türe hinein – in einer Ecke liegen Felle – das soll wohl ein Bett sein. Der Weg ist steil, er strengt mich an. Ich atme schwer und bin erleichtert, dass wir bald oben
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