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Der rote Norden - Roman

Der rote Norden - Roman

Titel: Der rote Norden - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Franzisika Haeny
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sind, auf dem baumlosen Buckel des Hügels, wo ein zweistöckiges Haus steht. Im Haus wartet eine weisshaarige Frau hinter einem Tresen, aber Martin geht an ihr vorbei, die Wendeltreppe hoch, die mitten im Raum in den ersten Stock führt. Dort gibt es Panoramafenster und eine Türe zur Veranda. Er öffnet die Verandatüre, und wir treten hinaus.
    Rotblättrige Baumwipfel verdecken einen Teil der Aussicht. Aber über die Bäume hinweg und durch diese hindurch sehe ich Seen – oder vielleicht ist es auch nur ein einziger riesiger See, in dessen dunkelblauem Wasser Inseln schwimmen, dichtbewaldete Inseln, länglich, rot. Und dahinter sehe ich wieder eine rote Landzunge und dann wieder einen See, dessen Blau schon dunstiger ist. Und wieder eine Landzunge, das Rot ist nun fahl. Ganz hinten geht der See in den Himmel über, er ist am Horizont möglicherweise etwas heller als der Himmel, die Farbabstufung ist kaum bemerkbar.
    Der Abhang hinunter zum See ist voller roter Birken, deren weisse Stämme und schwarze Äste ich – allerdings nur direkt vor mir – gut erkennen kann. Ich stehe auf der hölzernen Aussichtsterrasse des Museums. Ich gehe langsam das Geländer entlang und sehe: neue Inseln, andere dunkelblaue Buchten, vom roten Birkenwald eingefasst …
    Ich schliesse kurz die Augen. All diese Jahre bin ich in meinem Massivhaus-Bungalow gesessen (Kaspars Bungalow, natürlich), und nun ist da der Rote Norden, und all die Jahre hat es ihn gegeben. Ich habe nichts von ihm gewusst. Und, offen gesagt, wenn ich gewusst hätte, dass es den Roten Norden gibt, wenn ich in einer Zeitung über ihn gelesen hätte, hätte es mich nicht berührt. All die Jahre bin ich in meinem Bungalow gesessen, habe erst ein Kind grossgezogen und geputzt und gekocht, und später habe ich nur noch geputzt und gekocht. Ich wusste, dass das mein Leben war, und auch ein Zeitungsartikel über den Roten Norden hätte nichts daran verändert.
    Ich gehe das Geländer entlang, gehe hin und zurück und schaue. Später bemerke ich, dass Martin nicht mehr neben mir steht, aber ich weiss, er wartet auf mich. Ich blicke auf den tiefblauen See und auf die roten Inseln darin. Die rötliche Spiegelung im blauen Wasser kann man bei den näheren Inseln erkennen.
    Schliesslich gehe ich ins Haus zurück. Martin sitzt im unteren Stock auf einem Sessel. Er hat sich bei der Frau mit den weissen Haaren Tee bestellt, der nun vor ihm steht. Er schaut kurz auf und fragt mich, was ich denn gerne hätte, man kann Tee haben oder Kaffee oder Stücke von Kuchen, die auf zwei Tellern angeordnet sind, und selbstgebacken aussehen. Ich entscheide mich für Tee, die Frau kocht Wasser in einem Wasserkocher, ich kann zwischen zwei Sorten Beuteltee wählen. Martin bezahlt, und ich setze mich neben ihn. Es ist gut, dass ich weiss, dass er von mir keinen Kommentar zu dem, was ich gesehen habe, erwartet. Der Tee ist heiss, aber ich muss ihn ja nicht innerhalb von drei Minuten trinken.
    Später gehen wir den Weg hinunter, an der Hütte mit den Fellen vorbei, am schwarzen Boot vorbei. Der Stand, in dem man Billette kaufen kann, ist leer. Vielleicht merkt der alte Mann, ob Interessenten für sein Museum da sind.
    Danach fahren wir steil hinab, zurück auf die Landstrasse. Dort, wo die Zufahrt vom Museum in die Autostrasse mündet, stehen zwei helle Rentiere auf der Gegenfahrbahn. Sie schauen uns ruhig und interessiert nach. Ich drehe den Kopf, um sie länger sehen zu können, aber Martin versperrt mir die Sicht. Ich werde ihn fragen, ob ich fahren kann, denke ich, aber dann nimmt das Schauen mich wieder in Anspruch.
    Einmal fragt er mich, ob ich Hunger habe. Ich schrecke auf. Dann nicke ich. Er fährt auf einen Rastplatz hinter einer dünnen Wand roter Bäume. Plötzlich sind wir am Seeufer. Ich steige aus dem Auto; der See reflektiert silbern die Sonne. Der Himmel ist sehr blau hier – und doch ist es nicht warm. Martin hat die Bananenkiste vom Kofferraum auf den Holztisch, der am Ufer zwischen zwei Bäumen steht, gehievt. Ich sehe hinein: Sie ist tatsächlich voll mit Bananenstauden. Ich muss lächeln, ich erinnere mich. Als Junge hat Martin am liebsten Bananen gehabt, aber er hat die Banane immer erst dann erhalten, wenn er vorher zwei Äpfel gegessen hat. Er schaut mich mit seinen grossen braunen Augen an, und so sage ich: »Es gibt hier keine Äpfel! Es gibt hier nirgends Äpfel!« Er nickt. Dann weist er auf die Kaufhaus-Plastiktüte. Ich ziehe sie zu mir heran. Viele kleine

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