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Der rote Norden - Roman

Der rote Norden - Roman

Titel: Der rote Norden - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Franzisika Haeny
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Martin, aber wie ist das möglich, dass solche ewig gültigen Sätze für gewisse Menschen nicht stimmen, oder vielleicht stimmen sie auch für viele Menschen nicht, und man tut nur so, als wären sie ewig gültig, um etwas zu verbergen. Ich höre, wie Martin sagt: »Was meinst du?«
    »Ich weiss es nicht, Martin«, murmle ich, »mir scheint, ich weiss überhaupt nichts.« Der helle Fleck rechts ist sein Gesicht. Ich nehme wahr, wie er sich bewegt; jetzt setzt er sich in seinem Bett auf. »Ich meine nicht, dass ich recht habe, Sophie«, sagt er behutsam, »das ist einfach die Lösung, die ich für mich gefunden habe. Ich meine nicht, dass es die Lösung für dich ist oder für irgendeinen anderen Menschen.«
    Wenn du mit dir einverstanden bist … denke ich. Mir ist bewusst, dass ich nicht einverstanden mit mir bin. Ich weiss das genau. Aber möglicherweise bin ich heute Abend doch einverstanden mit mir gewesen, als ich auf den rosa glänzenden See geschaut habe. Vielleicht bin ich auch gestern mit mir einverstanden gewesen, als ich nach Imalo geflogen bin. Aber wenn das so gewesen ist, habe ich es nicht gewusst. Ich suche nach einem Wort, einem Satz, den ich sagen könnte und der Sinn machte.
    Und dann sehe ich etwas, was ich viele Jahrzehnte lang nicht gesehen habe: ein dunkelgraues Krokodil mit halbgeschlossenen gelben Augen. Es ist riesengross, es bewegt sich nicht.
    »Martin«, sage ich. »Als du ein Kind warst, ein kleiner Junge, ist da unter deinem Bett auch ein Krokodil gewesen?« Ich höre einen Laut von ihm, der wie »Ää« tönt. Und nach einer Pause sagt er ruhig: »Es ist kein Krokodil gewesen, Sophie, es ist eine Hexe gewesen. Sie hat unter meinem Bett gekauert. Jede Nacht. Und ich habe mich im Bett nicht bewegt, weil … sonst wäre sie hervorgekommen.«
    Das Krokodil verschwimmt, löst sich langsam auf.
    »Martin, warum haben wir es einander nie gesagt? Warum haben wir nie miteinander besprochen, was da unter unseren Betten war?«
    Er sagt nichts. Ich sage auch nichts, und dann weiss ich die Antwort. Ich formuliere langsam, weil die Antwort erst im Formulieren entsteht: »Wir haben nicht darüber gesprochen, weil wir gemeint haben, gewusst haben, dass nur wir allein … Ich meine, jeder von uns hat gemeint: Ich als Einziger auf der ganzen Welt habe das Böse, was mir Angst macht, nachts unter dem Bett; alle anderen Menschen schlafen ruhig in ihren Betten.«
    »Ja«, sagt Martin, und jetzt lacht er. Er lacht lange und fügt hinzu: »Wenn ich ein besseres Kind wäre, wenn ich das Kind wäre, das ich sein sollte, wäre auch nichts Böses unter meinem Bett.« Und wieder lacht er.
    Ich sage nichts, ich erinnere mich kurz an Leonie und an Martins Kinder, die beiden Zwillinge. Aber dann blicke ich auf den Mann neben mir. Er hat kein Gesicht, denn es ist dunkel, und ich habe meine Brille auf den Nachttisch gelegt. Aber ich erkenne, dass er seine Beine unter der Decke aufgestellt hat. Ich strecke meine rechte Hand aus und lege sie auf sein Knie, ich beuge mich etwas nach vorne. Jetzt, da ich ihn berühre, ist mir das Vergangene ganz nah. Ich sehe den kleinen Jungen von damals. Er liegt am Abend in seinem Bett, er hat Angst. Ich bin doch die Ältere gewesen. Ich hätte bemerken müssen, wie er gelitten hat. Ich hätte ihm helfen sollen. Ich spüre sein Knie unter der warmen Decke. Ich sage: »Verzeih mir, Martin, dass ich dir nicht geholfen habe. Aber ich will dir jetzt helfen. Ich will dir helfen, so fest ich kann.« Ich höre meine Stimme. Es ist gut, wenn man solche Sachen aussprechen kann.
    Er legt seine Hand auf meine Hand. »Aber du hilfst mir doch.« Er flüstert. »Du bist doch in den Roten Norden gekommen, weil du mir hilfst.«
    »Ja.« Aber es scheint mir, als genüge das nicht. Ich hätte damals etwas tun sollen, ich hätte ihn vor der Hexe bewahren sollen, und ich habe nicht einmal gewusst, dass die Hexe existierte.
    Meine Hand liegt auf seinem Knie und seine Hand liegt auf ihr. Ich denke über das nach, was er eben gesagt hat. Die Bananen und die Mandeln kommen mir in den Sinn, die wir vor einigen Stunden zusammen gegessen haben. Nichts, was verloren ist, ist in Wahrheit verloren, habe ich heute Mittag gedacht. Wir hätten die Bananen und die Mandeln als Kinder gern gehabt und haben sie nicht bekommen. Und jetzt, heute Mittag, waren sie da. Aber das, was ich jetzt erfahren habe, was mir jetzt klar geworden ist, ist anders: Wenn ich damals gewusst hätte, was ich jetzt weiss, hätte ich ihm damals

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