Der rote Planet
auch auf mich wirkte, selbst
mir war die Schönheit dieser Farben und Formen
verständlich, die von
dem kollektiven Genius der Menschen mit den großen Augen
geschaffen
wurde.
Wie bei uns wurde in früheren Epochen Eleganz auf
Kosten der
Bequemlichkeit erreicht; die Verzierungen minderten die
Stabilität, die
Kunst übte Gewalt am nützlichen Zweck der
Gegenstände. Bei den Werken1
der jüngsten Epoche sah ich nichts dergleichen —
weder bei Möbeln oder
Gerätschaften noch bei Bauwerken. Ich fragte Enno, ob ihre
zeitgenössische Architektur um der Schönheit willen
Abweichungen von
der praktischen Vollkommenheit zulasse.
»Niemals«, antwortete Enno, »das
wäre falsche Schönheit, gekünstelt, aber
keine Kunst.«
In vorsozialistischen Zeiten errichteten die Marsmenschen
ihren
großen Persönlichkeiten Denkmäler, jetzt
gedenken sie auf diese Weise
nur noch großer Ereignisse. Der erste Flug zur Erde, der mit
dem Tod
der Forscher endete, die Ausmerzung einer tödlichen Seuche,
die ersten
Experimente, bei denen die Spaltung und Synthese chemischer Elemente
gelang, sind solche Anlässe. Mehrere Denkmäler waren
als Stereogramme
in der Abteilung vertreten, wo sich die Grabmale und Tempel befanden.
(Auf dem Mars gab es früher auch Religionen.) Eines der
letzten
Denkmäler für große
Persönlichkeiten war das des Ingenieurs, von dem
Menni mir erzählt hatte. Der Künstler hatte deutlich
die Seelenstärke
des Mannes dargestellt, der siegreich eine Arbeiterarmee im Kampf gegen
die Natur geführt und stolz ein moralisches Urteil
über seine Tat
abgelehnt hatte. Als ich in unwillkürlicher Versonnenheit vor
dem
Stereoskop stand, sprach Enno leise einige Verse, welche die seelische
Tragödie des Helden ausdrückten.
»Von wem stammen die Verse?« fragte ich.
»Von mir«, antwortete Enno, »ich
habe sie für Menni geschrieben.«
Ich konnte die Schönheit der Verse in der fremden
Sprache nicht
richtig beurteilen, aber ihr Sinn war zweifellos klar, der Rhythmus
harmonisch, der Reim klangvoll und reich. Das bewog mich zu der Frage:
»Gelten in Ihrer Poesie noch Rhythmus und Reim in aller
Strenge?«
»Natürlich«, erwiderte Enno leicht
verwundert. »Kommt Ihnen das unschön vor?«
»Nein, durchaus nicht«, erklärte
ich, »aber bei uns meinen viele,
diese Formen entsprängen dem Geschmack der herrschenden
Klassen und
seien Ausdruck ihrer Launen und ihres Hangs zu Konventionen, welche die
Freiheit des künstlerischen Ausdrucks einschränken.
Daraus zieht man
den Schluss, dass die Poesie der Zukunft, die Poesie des Sozialismus
diese einengenden Gesetze abschaffen und ablehnen
müsse.«
»Das ist völlig falsch«, erwiderte
Enno hitzig. »Das
Regelmäßig-Rhythmische erscheint uns nicht als
schön, weil es unserem
Hang zum Konventionellen entspricht, sondern weil es gut mit der
rhythmischen Regelmäßigkeit unserer Lebensprozesse
und unseres
Bewusstseins harmonisiert Und der Reim, der Vielfalt bei gleichartigen
Schlussakkorden schafft, ist er nicht ebenfalls im Menschlichen
verwurzelt, das seine innere Vielfalt mit dem gemeinsamen Liebesgenuss,
einem gemeinsamen vernünftigen Ziel in der Arbeit oder
gleicher
Stimmung in der Kunst krönt? Ohne Rhythmus gibt es keine
künstlerische
Form. Wo es keinen Rhythmus von Tönen gibt, muss es unbedingt
einen
Rhythmus von Ideen geben. Und sollte der Reim tatsächlich
feudaler
Herkunft sein, so kann man das auch von vielen anderen guten und
schönen Dingen sagen.«
»Aber der Reim engt doch tatsächlich den
Ausdruck einer poetischen Idee ein und erschwert ihn!«
»Und was besagt das? Die Einengung ergibt sich aus
dem Ziel, das
sich der Künstler frei wählt. Der Reim erschwert zwar
den Ausdruck
einer poetischen Idee, aber er vervollkommnet ihn auch, und nur deshalb
existiert er. Je komplizierter das Ziel, desto schwieriger der Weg
dorthin, und folglich desto mehr Beschränkungen auf diesem
Wege. Wer
ein schönes Gebäude bauen will, muss viele Regeln von
Technik und
Harmonie beachten, die ihn ›einengen‹. Der
Künstler ist frei bei
der Wahl der Ziele - das ist die einzige menschliche Freiheit. Sobald
er ein Ziel wählt, wählt er zugleich auch die Mittel,
mit denen er es
erreichen will.«
Wir gingen in den Garten, um uns von den vielen
Eindrücken zu
erholen. Es war ein klarer und milder Frühlingsabend. Die
Blumen
schlössen ihre Blüten und rollten die
Blätter zusammen, um sie
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