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Der rote Prophet

Der rote Prophet

Titel: Der rote Prophet Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Orson Scott Card
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verschränkten sich über Alvins Zähnen. Mit ungeheurer Anstrengung riß er Alvins Mund auf. Geschichtentauscher preßte Alvin die Frucht zwischen die Zähne. Dann drückte Ta-Kumsaw wieder zusammen. Die Frucht brach auf, sie ergoß ihren klaren Saft in Alvins Mund und er troff seine Wange hinab ins Gras. Langsam und mit gewaltiger Anstrengung begann Alvin zu kauen. Tränen strömten aus seinen Augen. Er schluckte. Plötzlich streckte er die Hände aus, packte Geschichtentauscher am Hals und Ta-Kumsaw an den Haaren, und richtete sich auf, bis er aufrecht saß. Er hielt sich an den beiden fest, zog ihre Gesichter so eng an seines heran, daß sie alle gemeinsam dieselbe Luft atmeten, und weinte, bis ihrer aller drei Gesichter von Tränen benetzt waren; und weil Ta-Kumsaw und Geschichtentauscher ebenso weinten, konnte sich keiner sicher sein, wessen Tränen es waren, die die Haut eines jeden bedeckten.
    Alvin sprach nur wenig, aber genug. Er erzählte ihnen alles, was an diesem Tag am Tippy-Canoe geschehen war, vom Blut in dem Fluß, von den tausend Überlebenden, die das glatt und hart gewordene Wasser überquert hatten; vom Blut an den Händen der Weißen und vor allem vom Blut an den Händen eines bestimmten Mannes.
    »Das genügt nicht«, sagte Ta-Kumsaw.
    Geschichtentauscher widersprach nicht. Es stand einem weißen Mann nicht an, Ta-Kumsaw zu sagen, daß die Mörder seines Volkes die gerechte Strafe erlitten hatten. Und außerdem war Geschichtentauscher sich nicht sicher, ob sie überhaupt gerecht war.
    Alvin berichtete ihnen, wie er den Abend und die Nacht damit verbracht hatte, Measure dem Tod zu entreißen, und wie er am Morgen dem Propheten das unermeßliche Leid genommen hatte, als neuntausend unschuldig Gemetzelte unentwegt in seinem Geist aufschrien – neuntausendmal jener dumpfe, schwarze Schrei, der ihn Jahre zuvor heimgesucht hatte. Was war schwieriger gewesen – Measure zu heilen oder Lolla-Wossiky? »Es war genau, wie Ihr gesagt habt«, flüsterte Alvin Geschichtentauscher zu. »Ich kann diese Ziegelmauer einfach nicht schneller aufbauen, als sie zusammenbricht.« Dann schlief er ein, erschöpft, aber beruhigt.
    Geschichtentauscher und Ta-Kumsaw blickten einander an. »Jetzt kenne ich seine Wunde«, sagte Ta-Kumsaw. »Er trauerte um sein eigenes blutbeflecktes Volk.«
    »Seine Trauer galt den Toten und auch den Lebenden«, erwiderte Geschichtentauscher. »So, wie ich Alvin kenne, besteht seine tiefste Wunde darin, daß er glaubt, versagt zu haben, daß er sich nur stärker hätte abmühen müssen, um Measure rechtzeitig dorthin zu bringen, bevor der erste Schuß fiel.«
    »Weiße Männer trauern nur um Weiße«, sagte Ta-Kumsaw.
    »Belügt Euch ruhig selbst, wenn es Euch gefällt«, entgegnete Geschichtentauscher, »aber mich könnt Ihr mit Lügen nicht narren.«
    »Rote Männer aber trauern überhaupt nicht«, fuhr Ta-Kumsaw fort. »Rote Männer werden weißer Blut in die Erde strömen lassen für jenes Blut, das heute vergossen wurde.«
    »Ich dachte, Ihr würdet dem Land dienen«, warf Geschichtentauscher ein. »Begreift Ihr denn gar nicht, was heute geschehen ist? Erinnert Ihr Euch denn nicht daran, wo wir hier sind? Ihr habt einen Teil des Achtgesichtigen Hügels kennengelernt, von dem Ihr nicht einmal wußtet, daß er existiert, und weshalb? Weil das Land uns gemeinsam an diesen Ort geführt hat, um ...«
    Ta-Kumsaw hob eine Hand. »Um diesen Jungen zu retten.«
    »Weil Rot und Weiß dieses Land teilen können, wenn wir ...«
    Ta-Kumsaw streckte den Arm vor und legte einen Finger auf Geschichtentauschers Lippen.
    »Ich bin kein Farmer, der Geschichten von fernen Orten hören will«, sagte Ta-Kumsaw. »Geht und erzählt Eure Geschichten jenen, die sie hören wollen.«
    Geschichtentauscher schlug Ta-Kumsaws Hand beiseite. Eigentlich hatte er lediglich den Arm des roten Mannes wegschieben wollen, statt dessen aber schlug er mit viel zu großer Kraft zu, so daß Ta-Kumsaw das Gleichgewicht verlor. Ta-Kumsaw sprang sofort auf, und Geschichtentauscher tat es ihm gleich.
    »So fängt es an!« rief Ta-Kumsaw.
    Alvin, der zu ihren Füßen zwischen ihnen lag, bewegte sich.
    »Ein roter Mann hat Euch zornig gemacht, und Ihr habt ihn geschlagen, genau wie ein Weißer, keine Geduld ...«
    »Ihr habt mir gesagt, ich solle schweigen, Ihr habt gesagt, meine Geschichten wären ...«
    »Worte, das ist es, was ich Euch gegeben habe, Worte und eine sanfte Berührung, und Ihr habt mir mit einem Hieb geantwortet.«

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