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Der Rote Sarg

Der Rote Sarg

Titel: Der Rote Sarg Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sam Eastland
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    An der einen Straßenseite fanden sich Holzschilder, die in polnischer Sprache darauf hinwiesen, dass sie sich genau auf der Grenze zwischen den beiden Ländern befanden. Auf der anderen Seite waren Metallplaketten mit dem sowjetischen Hammer-und-Sichel-Emblem an die Bäume genagelt. Unter den Schildern gerann bernsteinfarbenes Harz zu langen, klebrigen Schlieren.
    Nachdem Pekkala stundenlang auf die Karte gestarrt hatte, war der Rusalka in seiner Vorstellung zu einem kleinen Wäldchen zusammengeschrumpft, so dass er überzeugt war, ein solches Ungeheuer von Panzer könne sich darin nicht lange verstecken.
    Jetzt aber, als sie über die unbefestigte Straße holperten und angestrengt auf die Spuren von Kropotkins Reifen starrten, wurde Pekkala bewusst, dass in diesen Wäldern Hunderte solcher Panzer spurlos verschwinden konnten.
    Überwältigt von der undurchdringlichen Weite des Waldgebiets, kamen Pekkala die Erinnerungen an Großstädte wie Leningrad, Moskau oder Kiew wie ein Traum vor. Ihm war, als gäbe es nichts mehr auf dieser Welt und als hätte es nie etwas anderes gegeben als die Wälder von Rusalka.
    Als schließlich die Sonne unterging, schien sich die Dunkelheit nicht über sie zu legen, wie es in der Stadt der Fall gewesen wäre. Stattdessen stieg sie vom Boden auf wie eine schwarze Flüssigkeit, die die Erde überflutete.
    Sie konnten die Reifenspuren nicht mehr erkennen, aber sie wollten die Autoscheinwerfer nicht anlassen, solange sie damit rechnen mussten, dass Kropotkin ihnen nach der nächsten Kurve auflauerte.
    Sie fuhren von der Straße ab, stellten den Wagen zwischen die Bäume und stiegen steifbeinig aus. Der Wind strich durch die Baumwipfel.
    »Wir werden die Suche fortsetzen, sobald es hell ist«, sagte Pekkala. »Schließlich ist es auch für Kropotkin zu gefährlich, in der Nacht weiterzufahren.«
    »Können wir ein Feuer machen?«, fragte Kirow.
    »Nein«, erwiderte Pekkala. »Er muss das Feuer gar nicht direkt sehen, allein der Rauchgeruch könnte ihn zu uns führen. Wir werden abwechselnd Wache schieben. Ich übernehme die erste Schicht.«
    Maximow und Kirow legten sich im engen Wagen zum Schlafen hin; Maximow auf den Vordersitzen, Kirow auf der Rückbank.
    Pekkala saß auf der Motorhaube des Emka und spürte die Wärme des sich abkühlenden Motors.
    Seit Jahren lebte er nun schon mit dem Donnern der U-Bahn-Züge unter den Moskauer Straßen, dem Klacken der Wasserleitungen in seiner Wohnung und dem fernen Klappern der Züge, die in den Weißrussischen Bahnhof einfuhren, so dass ihn die Stille im Wald nervös machte. Erinnerungen an seine Zeit in Sibirien wurden wieder wach, während er hilflos in die Finsternis starrte und wusste, dass sich Kropotkin bis auf wenige Meter nähern konnte, ohne dass er es bemerken würde.
    Feuchtigkeit legte sich auf seine Kleidung und verwandelte das Mattschwarz des Mantels in einen sogar in der Dunkelheit schimmernden Perlenumhang.
    Nach einer Weile ging die Fondtür des Emka auf, und Kirow stieg aus. Die Fensterscheiben waren mit einer dicken Kondensschicht überzogen.
    »Sind die drei Stunden schon um?«, fragte Pekkala.
    »Nein«, antwortete Kirow. »Ich kann nicht mehr schlafen.« Er schlang sich gegen die Kälte die Arme um die Brust. »Wie viel Zeit haben wir noch?«
    Pekkala sah auf seine Taschenuhr. »Vierzehn Stunden. Nach Sonnenaufgang bleiben uns nur noch ein paar Stunden.«
    »Würde es wirklich reichen, um einen Krieg anzuzetteln?«, fragte Kirow. »Ein Panzer, von einem Verrückten gesteuert? Selbst wenn es ihm gelingen sollte, ein paar Unschuldige umzubringen, muss die Welt doch so vernünftig sein …«
    Pekkala fiel ihm ins Wort. »Der letzte Krieg ist von einem Verrückten namens Gavrilo Princip ausgelöst worden. Er hat dazu nur eine Pistole gebraucht, und mit der hat er einen einzigen Menschen töten müssen, Erzherzog Franz Ferdinand.«
    »Ein Erzherzog ist eine ziemlich hochgestellte Persönlichkeit.«
    »Er mag ja eine wichtige Persönlichkeit gewesen sein, aber war er wirklich bedeutend genug, damit über zehn Millionen Menschen sterben mussten? Kirow, Sie sehen, der Krieg ist ausgebrochen, weil eine Seite wollte, dass er ausbricht. Und dazu war nur eine Lüge notwendig – eine Lüge, die mächtig genug ist, um dem eigenen Volk weiszumachen, dass seine Lebensart, seine Kultur in Gefahr ist. Das Gleiche gilt heute noch, und daher lautet die Antwort: Ja, ein einzelner Verrückter genügt.«

    Die Wagentür ging

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