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Der rote Tod

Der rote Tod

Titel: Der rote Tod Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pat N. Elrod
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... hatte dafür gesorgt, dass ich alles vergaß.
    War sie grausam oder freundlich gewesen? Als die Bruchstücke meiner Erinnerung sich allmählich wieder zusammensetzten, wusste ich, dass sie mich wahrhaft geliebt hatte und alles getan hätte, um mich vor Schaden zu bewahren. Aber sie musste auch sich selbst beschützen, und so war ich dazu gebracht worden, nicht nur alles zu vergessen, was sie von anderen unterschied, sondern auch meine Gefühle für sie. Die Hälfte meiner Seele war mir verschlossen gewesen. Ich legte die Arme um meine Beine und wiegte mich vor und zurück, überwältigt vom Schmerz.
    Meine Augen starrten blicklos in den klaren Nachthimmel, auf die kleinen Hügel und die gewinkelten Grabsteine, die mich umgaben, auf den großen, grauen Schatten der Kirche, der über den Boden kroch. Als Kind hätte ich mich jeder Herausforderung gestellt, bis auf diese: einen einzigen Moment an diesem Ort zu verbringen, nachdem es dunkel geworden war. War ich dazu verdammt, hier zu bleiben? War das meine Strafe, dafür, dass ich mich verliebt hatte?
    Fragen wie diese durchbrachen die Barriere, die ich aufgebaut hatte. Passend zu einer Gespenstergeschichte oder einem hoch dramatischen Bühnenstück, aber nicht zu mir. Ich war kein Geist oder der Empfänger göttlicher Rache, auch wenn ich jetzt keinen Zweifel mehr daran hegte, dass ich gestorben war. Mein Herz stand still. Meine Lungen arbeiteten nur, wenn ich bewusst atmete.
    Nora war ebenso gewesen. Fast hätte ich gelacht, als ich mich daran erinnerte, wie erschrocken ich war, als mir das zum ersten Mal auffiel. Das war in der Nacht gewesen, in der wir zum ersten Mal Blut ausgetauscht hatten. Ich war ... ich war jetzt wie Nora. Dadurch, dass ich ihr mein Blut gegeben und ihres genommen hatte, hatte sie mir – was? Ihre Befreiung vom Tod übertragen?
    Warum hatte sie mir nicht gesagt, was mich erwarten würde? Vielleicht hatte sie es selbst nicht gewusst, antwortete ich logisch.
    Dann lachte ich. Ich lachte, bis ich weinte. Ich konnte nicht aufhören. Ich wollte nicht aufhören. Ich gab mich völlig einem bösartigen Selbstmitleid hin, das schwärzer war als die Grenzen meines Grabes. Ich stöhnte und heulte und weinte und schrie schließlich, wobei die Laute meiner Stimme von der Wand der Kirche zurückgeworfen wurden und schließlich ins Nichts verschwanden. Ich erkannte es nicht. Ich erkannte nicht einmal mich selbst, denn ich hatte mich durch die überwältigende Verzweiflung darüber, sie verloren zu haben, in einen äußerst bemitleidenswerten, elenden Tropf verwandelt.
    Aber es ging vorbei. Schließlich. Mein Naturell ließ es nicht zu, dass ich mich sehr lange in solchen Abgründen der Seele aufhielt. Früher oder später müssen wir alle hervorkommen und mit den praktischen Angelegenheiten des weltlichen Lebens fertig werden.
    Ich wischte mir die Nase und die geschwollenen Augen mit dem unteren Rand meines Hemdes ab. Sie hatten mir meine besten Sonntagskleider angezogen. Mir war sogar eine richtige Rasur verpasst worden. Sicher hatte der arme Jericho es tun müssen. Wie hatte er sich dabei wohl gefühlt?
    Später. Darüber würde ich mir später Gedanken machen.
    Ich erhob mich steifbeinig, stieß das Leichentuch fort und wischte über die Erde, die an meiner Hose haftete. Was nun?
    Nach Hause gehen, natürlich.
    Das schien eine gute Idee zu sein. Dann hörte sie sich nicht mehr so gut an. Was würden sie annehmen? Wie konnte ich mich selbst nur erklären? Wie konnte ich Nora erklären?
    Wie – ich blickte meinen unzerstörten Grabhügel an – in Gottes Namen war ich dem entkommen? Die flachen Spuren, wo die Spaten die Erde festgestampft hatten, waren noch zu sehen, da, wo ich heruntergerollt war, ein wenig verwischt. Überall rundherum sah ich Fußspuren, von Männern und Frauen. Es bereitete mir keine Schwierigkeiten, mir vorzustellen, wie sie beim Grab standen, der Predigt zuhörten und während der Worte weinten. Sie waren die wahren Geister dieses Ortes, die Lebenden, deren Kummer die niedrigen Steine umwob wie Meeresnebel. Die Toten hatten ihren Frieden; diejenigen, die sie zurückgelassen hatten, waren die, die litten.
    Was bedeutete das für mich, der ich weder lebendig noch tot war, wo war mein Platz?
    Später.
    Meine Knochen lasteten schwer wie Blei an mir, ich war erschöpft durch die unverfälschten Emotionen, aber dennoch tauchten in meinem Geist dauernd neue Fragen auf. Ich ignorierte sie und schleppte mich vom Kirchhof. Ich musste nur

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