Der Rote Wolf
verdüsterte sich seine Stimmung. So zu leben war demütigend.
Seit der Diagnose waren exakt drei Monate vergangen.
Er schüttelte den Gedanken ab und ging weiter, zur Papierfabrik.
Das Einzige, was heute noch von ihr stand, waren die Lagerhallen, die großen Gebäude der Schande, die man während des Krieges den Deutschen zur Lagerung von Kriegsmaterial überlassen hatte. Waffen, Futtergetreide und Konserven konnten die Nazis hier lagern und wieder abholen, um es zu ihren Truppen in Norwegen und in der Sowjetunion zu transportieren. Dreißig Männer aus dem Dorf hatten hier gearbeitet, Karinas Vater war einer von ihnen gewesen. Sie hatte immer behauptet, die Arbeit für die Deutschen habe ihn zum Alkoholiker werden lassen. Ausflüchte, dachte er. Der Mensch hat einen freien Willen. Alles kann er wählen oder nicht wählen, außer dem Tod.
Auch er hatte seine Wahl getroffen, und seine Wahl war es gewesen, den Imperialismus mit dem Tod als Ausdrucksmittel zu bekämpfen, dem Tod als Werkzeug gegen Menschen, die sich wiederum dafür entschieden hatten, seine Brüder und Schwestern zu unterdrücken und ihnen die Freiheit zu versagen.
Meine Brüder und Schwestern, dachte er. Er war ohne Geschwister aufgewachsen, fand am Ende aber doch eine Familie und erschuf sich ein eigenes Rudel, das einzige, für das er jemals Verantwortung übernommen hatte, und das einzige, das er verraten hatte.
Die Schmerzen in seinem Bauch kehrten zurück, seine Verantwortungslosigkeit traf den Körper und ließ ihn schwer werden. Er ging zum Campingplatz, kehrte mit gequälten Schritten zur Rezeption zurück.
Was war er nur für ein Vater? Hals über Kopf hatte er sein Rudel verlassen und war weggerannt, als ihm der Boden unter den Füßen zu heiß wurde.
Der Schwarze Panther, dachte er, blieb neben der verschneiten Minigolfbahn stehen, um durchzuatmen, und ließ die verlorenen Kinder in Gedanken zu sich kommen. Sein Erbe und ältester Sohn, der Ungeduldigste, Rastloseste und auch Kompromissloseste von ihnen allen, der Panther, der seinen Namen zum Gedenken an die Freiheitskämpfer in den USA angenommen hatte. In der Gruppe hatte dies eine Diskussion ausgelöst, da einige meinten, es sei konterrevolutionär, sich einen amerikanischen Namen zu geben. Der Panther selbst sah es genau umgekehrt, sich nach Amerikas eigenen Kritikern zu benennen stützte seiner Meinung nach den Kampf gegen die Lakaien des Kapitalismus.
Er selbst hatte sich zurückgehalten und die anderen streiten lassen. Als sie zu keiner Einigung kommen konnten, gab er seine Entscheidung bekannt: Er war der gleichen Meinung wie der Panther. Es war bedrückend, wenn man bedachte, wie sehr sich der junge Revolutionär verändert hatte. Ohne seinen Führer war aus dem Schwarzen Panther ein Schatten statt einer Kraft geworden. Seine übrigen Kinder hatten andere Wege eingeschlagen und sich weit von ihren Idealen entfernt. Am schlimmsten war es dem Weißen Tiger ergangen. Der Tiger mittleren Alters war, verglichen mit dem schlanken Jungen seiner Erinnerung, so verändert, dass man beinahe glauben konnte, er sei gegen einen anderen ausgetauscht worden.
Langsam ging er zu seiner Hütte. Der Weiße Tiger war in jenem Sommer hier mit ihm spazieren gegangen, und plötzlich ging er wieder neben ihm, der Junge, der seinen Namen gewählt hatte, weil die Farbe Reinheit und das Tier geschmeidige Stärke symbolisierten.
Damals hatte er ein reines Herz, dachte der Mann, heute ist es genauso schwarz wie das Stahlwerk, das er leitet.
An Hausgiebeln und hinter Vorhängen sah er Menschen, die damit beschäftigt waren, menschliche Sinnlosigkeiten auszuführen. Man trank Kaffee, plante Einkäufe, schmiedete niederträchtige Strategien gegen die Konkurrenz und träumte von sexueller Befriedigung. Die Ferienhaussiedlung war fast vollständig belegt mit Besuchern irgendeiner Messe in der großen Halle, was ihm sehr gelegen kam. Niemand hatte ihn seit Beginn seiner Fahrt in den Norden angesprochen.
Er blieb vor seiner Hütte stehen und schwankte ein wenig, bald würde er mit seinen Kräften am Ende sein. Er musste an seine beiden letzten Kinder denken.
Der Löwe der Freiheit hatte seinen Namen verliehen bekommen, weil man der Meinung war, dass ein Mitglied der Gruppe ihre Solidarität mit Afrika symbolisieren sollte, und weil dem Löwen selbst die Fähigkeit abging, aus eigener Kraft wirklich große Gedanken zu formulieren. Dem Jungen mangelte es nicht an der richtigen Überzeugung, aber er
Weitere Kostenlose Bücher