Der Rote Wolf
eingenommen und die gesamte einheimische Bevölkerung vertrieben. Vierhunderttausend Menschen flohen damals nach Finnland, und ein Teil von ihnen zog weiter nach Schweden.
Sie starrte den Bildschirm an.
Eine ethnische Säuberung, dachte sie. Das Phänomen ist alt, nur der Begriff ist neu.
War das von Bedeutung? War es wichtig, dass die Mutter des Terroristen von sowjetischen Soldaten aus ihrer Heimat vertrieben worden war?
Nicht unbedingt. Vielleicht.
Sie loggte sich aus und rief die Kirchengemeinde NiederLulea an. Solche Recherchen erledigte sie am liebsten telefonisch, weil dann ihre schnüffelnde, neugierige Hyänenschnauze nicht zu sehen war.
Karina Björnlund wurde am 9. September 1951 als zweites Kind von dreien des Ehepaars Hilma und Helge Björnlund geboren. Das Paar hatte sich 1968
scheiden lassen, die Mutter war heute in zweiter Ehe verheiratet und wohnte in der Storgatan in Lulea, der Vater war gestorben. Die Geschwister hießen Per und Alf.
Was bedeutete das? Nichts.
Sie dankte der Gemeindeassistentin und stand rastlos auf, drehte, schnell und ohne ihre Umgebung wahrzunehmen, eine Runde durch die Wohnung, ehe sie wieder nach dem Telefon griff und bei der
Norrlands-Tidningen
anrief.
»Hans Blomberg hat heute frei«, beschied die griesgrämige Telefonistin.
»Verbinden Sie mich trotzdem mit dem Archiv«, sagte Annika schnell, ehe sie sich erneut eine Tirade über die EU anhören musste.
Es meldete sich eine junge Frau.
»Ich weiß ja, die da oben haben beschlossen, dass wir mit dem
Abendblatt
zusammenarbeiten, aber es kommt natürlich keiner mal auf die Idee, uns zu fragen, ob wir dafür auch Zeit haben«, sagte sie gestresst. »Ich gebe Ihnen unser Kennwort, dann können Sie sich über das Internet selbst in unser Archiv einloggen.«
Sie sollte ein wenig kürzer treten, sonst wird sie noch wie Hans, dachte Annika.
»Das, wonach ich suche, haben Sie mit Sicherheit nicht im Computer«, sagte sie.
»Ich suche nach den frühesten Zeitungsausschnitten, die Sie über Karina Björnlund haben.«
»Die Kultusministerin? Aber über die haben wir doch ganze Bände.«
»Ich will nur die allerersten. Könnten Sie mir die Artikel bitte zufaxen?«
Sie gab der Archivarin ihre Privatnummer und ermahnte sich selbst, nicht zu vergessen, dass sie das Faxgerät einschalten musste. »Wie viele? Die ersten hundert?« Annika dachte nach. »Sagen wir, die ersten fünf.«
pie Frau seufzte.
»Okay, aber vor der Mittagspause wird das nichts mehr.« Sie legten auf, und Annika ging in die Küche und räumte das Frühstücksgeschirr weg, schaute nach, was es im Kühlschrank gab, und sah, dass sie als Abendessen Hähnchenfilet in Kokosmilch kochen konnte.
Dann zog sie sich Jacke und Schuhe an. Sie musste raus, musste an die frische Luft. Im 7-Eleven an der Fleminggatan holte sie sich eine Pasta mit Champignons und Speck und aß sie langsam, während sie über die Kungsbron Richtung Innenstadt ging.
Die leere Verpackung warf sie in einen Papierkorb an der Kreuzung Vasagatan und Kungsgatan und ging dann mit schnellen chatten zum Hötorget hinauf, wurde auf der Drottninggatan jedoch wieder langsamer. Diese Straße war die einzige wirklich kontinentale Fußgängerzone der Stockholmer Innenstadt, mit ihrer Mischung aus Himmel und Hölle, Straßenhändlern, Musikern, Huren und frierenden Pennern, die den Raum zwischen den Sommerzpalästen, Lichterketten und dicht befahrenen Straßen füllten. Sie bewegte sich mit dem drängelnden Strom und wurde von einem zärtlichen Gefühl erfüllt. Die Menschenmenge schob sie voran, und ihr war ein wenig sentimental und melancholisch ums Herz, als sie sich die Leute um sie herum ansah, die verbissenen Mütter mit ihren quietschenden und schaukelnden Kinderwagen, die Gruppen schöner junger Frauen aus den Einwanderervororten mit ihren hohen Absätzen und hellen Stimmen, die endlich außer Sichtweite des Elternhauses waren und deren Haare und auf offene Jacken und enge Tops fielen, die wichtigen Männer in ihren Uniformen aus Aktentaschen und Stress, die geleckten Ostermalm-Kids mit ihren Canada-Goose-Jacken und der nasalen Sprache, die Touristen, die Wurstverkäufer, die Läden, die Verrückten und die Junkies, sie ließ sich von ihnen allen einlullen. Vielleicht konnte sie ja am Grund ihres großen gemeinsamen Brunnens ein Zuhause finden.
»Ist das nicht die Frau mit der Mörderin? Ist sie das nicht? Guck doch mal! In dem Tunnel, die war doch im Fernsehen …«
Sie drehte sich nicht
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