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Der Rote Wolf

Der Rote Wolf

Titel: Der Rote Wolf Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Liza Marklund
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Er erinnerte sich noch an die anderen Überbleibsel aus der Zeit des Sägewerks, die am Flussufer gelegen hatten. Ob sie wohl immer noch da waren? Und waren die Kiefern schließlich die steilen Sandhänge der Uferböschungen hinunter ins Wasser gerutscht?
    Er ging mit leichten und festen Schritten auf gründlich vom Schnee geräumten Winterstraßen, die von einer dünnen, mit Kies und Tannennadeln durchsetzten Eisschicht bedeckt waren. Die Spur des Schneepflugs war schnurgerade, die Häuser, die ihn umgaben, gehörten nicht zu seiner Erinnerung. Hier war alles pittoresk renoviert worden, mit dem Ehrgeiz, der einer Kulturelite und Beamten und leitenden Angestellten vorbehalten war. Viele der ehemaligen Arbeiterunterkünfte hatten ihre rote oder ockergelbe Farbe zurückerhalten, nun jedoch in einer glänzenden Plastikversion. Holzschnitzereien strahlten weiß im bleigrauen Dämmerlicht, schnurgerade Fensterrahmen enthüllten, dass sie teurer Ersatz aus ausgewähltem Kernholz waren. Zusammen mit den bunten Schaukeln des Spielplatzes, den sauberen Verschlüssen der Glascontainer und den sorgfältig gefegten Eingangstreppen offenbarte der Ort einen verlogenen und dekadenten Übermut.
    Alles hier war tot und leer. Er hörte einen Hund bellen, vor ihm sprang eine Katze in einen Schneewall, aber Karlsvik lebte nicht, das Dorf war nur ein Spiegel, der die Funktion hatte, die Menschen zu reflektieren, die hier wohnten und sich für Prachtexemplare der Gattung Mensch hielten.
    Er unterbrach sich selbst in seinen Gedanken und rief sich ins Gedächtnis, dass das Leben der einfachen Leute immer in den Händen des Großkapitals lag, heute so gut wie damals.
    Und dann gelangte er auf den Disponentvägen und erkannte augenblicklich ihr Haus, die Fassade war so rot und verlockend wie der feucht glänzende Lippenstift einer Hure, und sein Blick wurde automatisch von ihrem Fenster in der oberen Etage angezogen. Grüne Fensterprossen und auf dem Dach eine Antenne, die aussah wie ein riesiges Insekt.
    Sein Mädchen, sein Roter Wolf.
    Frauen hatten in ihm stets einen schüchternen und zurückhaltenden Mann gesehen, einen sanften und vorsichtigen Liebhaber. Nur zusammen mit Karina war er grandios gewesen. Allein mit ihr hatte sich die Liebe über bloße Erotik erhoben, erschien ihm die Liebe als das Mirakel, das sie tatsächlich war. Mit ihr und ihren gemeinsamen Freunden hatte er seine Familie gegründet, und in all den vorbeihastenden Jahren und Sekunden waren sie immer bei ihm gewesen.
    Sie hatte nicht mit ihm sprechen wollen.
    Als er sie aufsuchte, hatte sie ihn abgewiesen. Dieser Verrat trieb ihm die Zornesröte ins Gesicht, sie, die ihrer aller schimmernder Stern gewesen war. Sie hatte ihren stolzen Namen erhalten, weil man die Herkunft der Gruppe aus dem Norden betonen wollte. Auch wenn man sich als Teil des chinesischen Volkes ansah, gab es doch nichts, was einen daran hinderte, die grenzüberschreitende Dimension des Freiheitskampfes hervorzuheben. Doch sie hatte sich an der trügerischen Süße der Macht berauscht und ihm den Rücken zugekehrt. Nun wandte er ihrem Elternhaus den Rücken zu. Mit federnden Schritten ging er zu dem Kulturlehrpfad neben dem Campingplatz, blieb an einem Schneewall stehen und starrte zwischen den mageren Kiefern hindurch, die dort wuchsen.
    Als graue Fundamente waren dort die Überreste von Norrbottens erstem Eisenhüttenwerk zu erkennen. Er sah spitze Überbleibsel, die aus dem Schnee ragten, verbogene Wrackteile des eitlen menschlichen Bestrebens, selbst über das Schicksal zu bestimmen.
    Die Geschichte des Eisenhüttenwerks war kurz und heftig gewesen. Mehrere hundert Menschen arbeiteten hier um 1900 daran, das Eisenerz zu veredeln, das es in der Provinz gab. Sie nutzten die Rohstoffe aus ihrer eigenen Region, und das konnte natürlich nur auf eine Art enden. Mittelschwedische Hüttenbesitzer kauften die Fabrik nach dem Ersten Weltkrieg auf, schlachteten Maschinen und Ausrüstung aus, verkauften die Unterkünfte der Arbeiter und sprengten das gesamte Werk buchstäblich in die Luft.
    Manche durften eben etwas sprengen, andere nicht.
    Plötzlich stach es wieder im Zwerchfell, und er merkte, dass er fror. Die Wirkung der Medikamente ließ nach, und er musste zusehen, dass er zu seiner Hütte zurückkam. Auf einmal wurde er sich wieder seines Geruchs bewusst, der in den letzten Tagen wesentlich schlimmer geworden war. Bei dem Gedanken an das trockene Nahrungspulver, von dem er sich ernähren musste,

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