Der Rote Wolf
müssen hier weg«, sagte sie. »Hier ist es kälter als in einer Gefriertruhe.
Können Sie mir helfen, ihn zu tragen?«
»Ich bin doch selbst verletzt«, sagte die Kultusministerin. »Und außerdem, warum sollte ich ihm helfen? Wo er mir so viel kaputtgemacht hat. Kann Yngve ihn nicht tragen?«
Der Alkoholiker hatte sich auf die Erde gesetzt und hielt krampfhaft seine halb geleerte Flasche im Arm.
»Sie dürfen hier nicht einschlafen«, sagte Annika zu Yngve, und die Situation kam ihr immer unwirklicher vor, der eiskalte Raum drohte sie zu ersticken.
»Wenn Sie wüssten, wie ich all die Jahre gelitten habe«, sagte Karina Björnlund.
»Immer habe ich in der Angst gelebt, jemand könnte rauskriegen, dass ich diese Irren kannte. Aber so ist es doch, wenn man jung ist, nicht wahr? Man hat eine Menge bescheuerter Ansichten und trifft sich mit den falschen Leuten, oder etwa nicht?«
Göran Nilsson versuchte sich aufzusetzen, schrie jedoch schwach auf und sank auf den Betonboden zurück.
»In meiner Hüfte ist etwas kaputtgegangen«, flüsterte er, und Annika erinnerte sich an den Oberschenkelhalsbruch ihrer Großmutter in dem Winter, in dem so viel Schnee lag.
»Ich werde Hilfe holen gehen«, sagte Annika, und im nächsten Moment hielt der Mann ihr Handgelenk fest im Griff.
»Wo ist Karina?«, murmelte er mit trübem Blick.
»Sie ist hier«, sagte Annika leise und löste sich erschrocken von ihm, stand auf und wandte sich der Ministerin zu. »Er will mit Ihnen sprechen.«
»Worüber? Wir haben uns nichts mehr zu sagen.«
Karina Björnlunds Nase war zugeschwollen, sodass ihre Stimme gepresst klang.
Zögernd ging sie auf den Mann zu, und Annika sah, dass sie immer noch aus den Nasenlöchern blutete. Ihr Gesicht war blau und geschwollen. Annika begegnete ihrem Blick, las in ihm all die Verwirrung, die sie selbst auch empfand, und dadurch wurde ihr leichter ums Herz, sie war nicht allein, sie war nicht allein.
»Leisten Sie ihm Gesellschaft«, sagte Annika, und die Ministerin trat zögernd zu dem Terroristen, doch als sie sich über ihn beugte, schrie er auf.
»Kein Blut«, keuchte er. »Nimm das Blut weg.«
Plötzlich wurde Annika wütend. Da lag er nun, der Massenmörder, der Berufssadist, der Profiterrorist, und jammerte wie ein Waschlappen. Mit einem Schritt war sie bei dem Mann und packte seine Jacke.
»So, Sie können also kein Blut sehen, Sie Schwein? Aber all diese Menschen umbringen, das konnten Sie?«
Sein Kopf fiel zurück, er schloss die Augen.
»Ich bin Soldat«, sagte er matt. »Meine Schuld ist nicht annähernd so groß wie die der politischen Führer in der freien Welt.«
Sie spürte, dass ihr Tränen in die Augen stiegen.
»Aber warum Margit?«, sagte sie. »Warum der Junge?«
Er schüttelte den Kopf.
»Das war ich nicht«, flüsterte er.
Annika sah zu Karina Björnlund auf, die leicht wankte.
»Er lügt«, sagte sie. »Natürlich war er es.«
»Ich schlage nur gegen den Feind zu«, erklärte Göran Nilsson schwach. »Nicht gegen Freunde oder Unschuldige.«
Annika starrte die schmerzverzerrten Gesichtszüge des Mannes an, sah seine Resignation und seine Gleichgültigkeit und wusste plötzlich, dass er die Wahrheit sagte.
Er hatte sie nicht ermordet, es bestand für ihn auch gar kein Grund, Benny Ekland, Linus Gustafsson, Kurt Sandström oder Margit Axelsson zu töten.
Aber wer hatte es dann getan?
Ein Schauer lief ihr über den Rücken, und sie richtete sich auf tauben Beinen auf und ging unsicher zur Tür.
Aber die war verschlossen und rührte sich keinen Millimeter von der Stelle.
Annika erinnerte sich an die Schließvorrichtung an der Außenseite, und die Erkenntnis traf sie wie ein Schlag ins Gesicht.
Hans Blomberg hatte sie eingeschlossen.
Sie war zusammen mit drei anderen Menschen in einer Gefriertruhe eingeschlossen, es waren 30 Grad unter null, zwei von ihnen waren verletzt, und der Dritte war sturzbetrunken.
Hans Blomberg, dachte sie. Ist das wirklich möglich?
Im nächsten Augenblick wölbte sich wieder der Tunnel über ihr, die Rohre erstreckten sich entlang der Decke, und sie spürte das Gewicht des Dynamits am Rücken, und irgendwo in weiter Ferne weinte eine Frau, schluchzte und jammerte vor Schmerzen und Verzweiflung, und ihr wurde bewusst, dass es die Kultusministerin war, Karina Björnlund. Sie war nicht allein, sie war nicht allein.
Annika ließ den Tunnel hinter sich und kehrte in die Wirklichkeit zurück. Jetzt durfte sie nicht zerbrechen, denn wenn
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