Der Rote Wolf
keinen Unterschied zwischen mir und dem verlogenen Bürgertum. Ich lebe weiter durch meine Kinder, und als Belohnung dafür schenke ich ihnen mein Erbe.«
Er taumelte, griff sich an den Magen.
»Niemand wird euch mehr ausbeuten können«, erklärte er. »Eure Tage im Hamsterrad sind vorbei.«
»Wie meinst du das?«, sagte Karina Björnlund, die plötzlich nicht mehr ganz so ängstlich wirkte.
»Er will uns Geschenke überreichen«, meinte Hans Blomberg, und in seiner Stimme schwang verblüfftes Misstrauen mit. »Wir sind bei einer Weihnachtsbescherung gelandet! Oder sind wir vielleicht bei einem Leichenschmaus? Die Revolution ist tot, habt ihr das gehört?«
»Jetzt hör schon auf, Hasse«, sagte Karina Björnlund und legte ihm die Hand auf den Arm. »Mao ist tot, sogar China ist heute kapitalistisch.«
»Du hast doch auch einmal daran geglaubt«, erwiderte Hans. »Du warst auch eine Revolutionärin.«
»Herrgott noch mal«, sagte sie, »wir waren doch nur Kinder. Alle glaubten damals an die Revolution. Das war eben so, aber diese Zeiten sind lange vorbei.«
»Nicht für mich!«, schrie Hans Blomberg, und Göran Nilsson trat unsicher einen Schritt auf ihn zu.
»Panther«, sagte er, »du hast das falsch verstanden.«
»Nein!«, brüllte der Archivar, und seine Augen wurden rot und feucht. »Das könnt ihr mir nicht antun. Die Revolution ist das Einzige, was zählt.«
»Reiß dich zusammen«, sagte Karina Björnlund und schüttelte gereizt Blombergs Arm, doch der Mann löste sich mit einem heftigen Ruck aus ihrem Griff. Im nächsten Moment hob er seine geballte rechte Faust und schlug ihr mitten ins Gesicht.
Jemand schrie, vielleicht die Ministerin, vielleicht auch der Alkoholiker oder Annika, und dann wandte sich der rasende Archivar Göran Nilsson zu und stieß
ihn mit aller Kraft gegen die Wand mit dem Mao-Plakat. Der Gelbe Drache schlug auf dem Betonboden auf, und man hörte das Knacken eines brechenden Knochens und ein zischendes Geräusch, als die Luft aus seinen Lungen gepresst wurde.
»Ihr verdammten Verräter!«
Hans Blombergs Stimme überschlug sich. Er nahm Anlauf, warf sich gegen die Tür, schleuderte sie krachend auf und knallte sie mit der gleichen Wucht wieder zu.
Die Kerze flackerte, ging jedoch nicht aus und beruhigte sich wieder, die Schatten hörten auf zu flattern.
»Ich blute!«, schrie die Ministerin, die hinter dem Kompressor auf der Erde hockte. »Helft mir!«
Danach wurde es still und die Kälte wieder spürbar. Annika hörte durch die Wand schwach die Flüche des Archivars, als dieser Richtung Eisenbahnlinie verschwand. Sie ging zu Göran Nilsson. Der Mann lag bewusstlos an der Wand, sein rechter Fuß stand in einem unnatürlichen Winkel ab, sodass sein rechtes Bein ein wenig kürzer aussah als das linke. Yngve starrte betrunken und leicht schwankend seinen auf dem Fußboden liegenden Führer an. Aus seinem Gesicht war fast jede Farbe verschwunden, und seine Zähne klapperten. Karina Björnlund kämpfte sich mit der Hand vor dem Gesicht mühsam auf die Beine, zwischen ihren Fingern lief Blut auf den Pelzmantel herab.
»Meine Nase ist gebrochen«, jaulte sie. »Ich muss ins Krankenhaus.«
Sie brach in Tränen aus, hörte jedoch sofort wieder auf zu weinen, weil das offenbar zu wehtat.
Annika ging zu der Ministerin und legte ihr beruhigend die Hand auf den Arm.
»Ist halb so schlimm«, sagte Annika und musterte das Gesicht der Frau hinter der Hand. »Das wird verheilen.«
»Aber wenn sie schief bleibt?«
Annika wandte sich ab und ging zu dem Mann auf dem Boden. Er roch wirklich unglaublich widerlich, es war der Gestank eines todkranken Menschen.
»Göran«, sagte sie laut. »Göran Nilsson, hören Sie mich?«
Ohne eine Antwort abzuwarten, beugte sie sich vor, streifte ihre Handschuhe ab und zog die Waffe des Mannes aus der Manteltasche. Sie war schwer und kalt.
Mit dem Rücken zu den anderen ließ Annika sie vorsichtig in eine der Taschen ihrer Polarjacke gleiten. Sie verstand nichts von Revolvern, redete sich aber ein, dass sie schon gesichert sein würde.
Der Gelbe Drache stöhnte laut, seine blassen Lider flatterten. Sie legte die Hand auf den frostigen Zementboden, um zu fühlen, wie kalt es war, und die Feuchtigkeit ließ ihre Finger augenblicklich festfrieren. Erschrocken riss sie sich los.
»Sie können hier nicht liegen bleiben«, sagte sie zu dem Mann, »Sie müssen aufstehen. Können Sie auf dem Bein stehen?«
Sie sah zu Karina Björnlund auf.
»Wir
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